Gibt es nicht«
den, wie es einmal war. Das ist aus historischer Perspektive falsch. Wie haben sich die großen technologischen Fortschritte auf die Ungleichheit ausgewirkt? Es gibt ja das Argument, dass die vierte industrielle Revolution, in der wir gerade leben, mit Nanotechnologie, Robotik, Digitalisierung und so weiter, diese Effekte verstärkt. Ich hätte das zu Beginn meiner Studie nicht erwartet, aber es gibt ein Paradox. Man würde glauben, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung begonnen hat, die Ungleichheit stark gestiegen sei. Dem dürfte aber nicht so sein – denn die war schon seit Jahrtausenden so hoch. Denn in dem Moment, in dem man vom Jagen und Sammeln auf Landwirtschaft umstieg, wo man Privatbesitz hatte, den man durch Vererbung weitergeben konnte, und hierarchische, ungleiche politische Strukturen, hatte man schon sehr starke Ungleichheit. Mit der Industrialisierung änderten sich nur die Mechanismen, die dem zugrunde liegen: In vormodernen Zeiten ist der am reichsten, der das meiste Land hat, und das vererbt und konzentriert sich. Die politischen Systeme waren damals enorm ungleich, und das führte dazu, dass oft nicht der am reichsten war, der am besten wirtschaftet, sondern der politische Macht hat und ausbeuten, plündern und erpressen konnte. In Europa hat sich das gewandelt, die Staaten wurden demokratischer, haben die Kapitalisten mit der Zeit besser beschützt. Und so war es für die Kapitalisten möglich, ihren Besitz zu bewahren und zu erweitern. Darum sieht man keinen wesentlichen Unterschied in der Ungleichheit zwischen zum Beispiel England im 19. Jahrhundert und England im Mittelalter. Das ist irgendwie deprimierend, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das in Zukunft ändern würde. Die Wirtschaft wird sich ändern, das Resultat bleibt aber das gleiche. Im Lichte Ihrer Forschungen: Wie bewerten Sie den klassischen europäischen Wohlfahrtsstaat? In Österreich haben wir knapp über 50 Prozent Staatsquote. Es gäbe also ausreichende Mittel zur Umverteilung. In Europa war der Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten recht erfolgreich in der Abwehr der steigenden Brutto-Ungleichheit bei den Einkommen. Aber dafür gibt es eine logische Grenze. Wenn die Staatsquote, wie in ganz Westeuropa, rund 50 Prozent beträgt, scheint der Staat an seine Grenzen zu stoßen. Selbst in Europa ist die Netto-Ungleichheit in den vergangenen 20, 30 Jahren gestiegen. Es öffnet sich eine Spanne, die der Staat nicht mehr durch zusätzliche Umverteilung absorbieren kann. Europas größtes Problem in den nächsten 50 Jahren ist die Alterung. Die ist massiv, und sie wird Einfluss auf die Verwendung öffentlicher Mittel haben. Man wird mehr für Pensionen, das Gesundheitswesen und die Pflege ausgeben müssen. Diese Ausgaben sind nicht wirklich redistributiv. Reale Umverteilung bewirken Subventionen für arme Leute mit vielen Kindern. Je mehr öffentliche Mittel verwendet werden, um diesen Alterungsprozess zu finanzieren, desto weniger Mittel werden zur realen Umverteilung verfügbar sein. Die Einwanderung kann diesen Prozess nur reduzieren, aber nicht abfangen. Das ist ganz unmöglich. Und es gibt schon Studien, die zeigen, wie sich die Anwesenheit einer großen Zahl von als fremd empfundenen Einwanderern auf die Einstellung der Menschen gegenüber der Umverteilung auswirkt. Und es zeigt sich, wenig überraschend, dass der Effekt negativ ist. Die Leute sagen sich: Warum sollen wir zu diesen Leuten umverteilen? Das sieht man bereits in Schweden und Dänemark. Der europäische Sozialstaat wird also weniger kohäsiv, altert und hat ohnehin wenig Spielraum, die Steuern zu erhöhen. Das hätte auch keinen Sinn. Francois¸ Hollande musste zum Beispiel die 75-prozentige Steuer auf Millionäre zurücknehmen, weil sie fast nichts eingebracht und ihn noch unbeliebter gemacht hat. Geht die Debatte vielleicht am eigentlichen Problem vorbei? Mir konnte noch niemand erklären, ab welchem Gini-Koeffizienten man in einer guten und ab welchem man in einer schlechten Gesellschaft lebt. Wer heute bei Starbucks Kaffee zubereitet, ist viel ärmer als der Starbucks-Chef, aber er hat es besser als die Näherin in New York vor 100 Jahren, die ständig Angst haben musste, dass die Fabrik in Flammen aufgeht. Das ist eine sehr gute Frage. Es geht ja primär um die Armut. Man könnte sich darauf konzentrieren, die Anzahl der Menschen zu reduzieren, die unter einem bestimmten Niveau leben. Aber sobald auch die ärmeren Bevölkerungsschichten einen gewissen Lebensstil erreicht haben, muss man sich fragen, ob die Verteilung von so zentraler Bedeutung ist. Im Grunde genom- men könnte man sagen, sie ist nur dann ein Problem, wenn die Reichen sich Mittel aneignen, die eigentlich anderen Schichten zugutekommen sollten. In diversen Entwicklungsländern kann man dieses Argument sicher bringen. In westlichen Ländern ist das schwieriger. Die Frage ist dort: Würde das Geld, das sich irgendwelche WallStreet-Leute einstecken, dem Starbucks-Barista zugutekommen oder nicht? Es gibt auch keinen Idealwert. Niemand hat nachgewiesen, dass ein bestimmter Gini-Koeffizient ideal ist in Bezug auf Wirtschaftswachstum und sozialen Frieden. Zwischen Schweden und den USA ist der Unterschied enorm – und trotzdem existieren beide Länder recht erfolgreich vor sich hin. Sie geben zu bedenken, dass wir uns auf eine längere Phase der Ungleichheit gefasst machen müssen. Glauben Sie, dass das zu jenen Spannungen führen kann, die letztlich doch zu jenen drei menschengemachten
Walter Scheidel