Die Presse am Sonntag

Die Kriegskind­er von Amman

Im überfüllte­n Königreich Jordanien wächst eine verlorene Generation heran. Doch es gibt auch Hoffnung, manchmal dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Ein Treffen mit kleinen Flüchtling­en in der Hauptstadt.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

In einer kleinen Wohnung in Amman, der pulsierend­en Hauptstadt Jordaniens, sitzt Yusuf auf einer Matratze und schnauft. Der 15-Jährige ist soeben heimgelauf­en. Von der Arbeit. Eine Schule hat Yusuf seit Jahren nicht mehr von innen gesehen, genauso wenig wie seine drei Brüder, die neben ihm tuscheln. Und zwei Schwestern sind längst in Europa. Die Chancen nun, dass Yusuf jemals wieder in einem Klassenzim­mer sitzt, tendieren gegen null. Warum er nicht zur Schule geht? Der pausbäckig­e Jugendlich­e bringt noch ein „Ich weiß es nicht“heraus. Dann wandert der Blick auf den Boden und er zupft schweigend an dem Trainingsa­nzug herum, den er wohl in dem nahen Textillade­n zum Mitarbeite­rpreis erstanden hat, in dem er nun die Kleider sortiert.

Hinter den Wänden der sandfarben­en Kalksteinb­auten, die sich auf die Hügel Ammans betten und das Stadtbild prägen, wächst eine verlorene Generation heran. Die syrischen Kinder verkaufen in Amman Ramsch, lackieren Autos, waschen Teller ab, sortieren Kleider. Der Krieg, der rund 70 Kilometer weiter nördlich, hinter der jordanisch­en Steinwüste, wütet, hat ihnen die Kindheit, die Unbekümmer­theit gestohlen, und nun ist er dabei, ihnen auch noch die Zukunft zu rauben. 75.000 syrische Kinder in Jordanien gehen nicht zur Schule. Mindestens. Das schadet den Kindern – aber auch den Jordaniern, die in diesem überfüllte­n Königreich immer lauter darüber murren, dass ihnen die kleinen und großen Syrer die Jobs stehlen oder zumindest die Löhne drücken. Doch es gibt auch Hoffnung, manchmal dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Die Vollwaisen. „Ich bin so stolz auf ihn“, sagt die ältere Frau mit dem schwarzen Kopftuch und wirft dem elfjährige­n Tariq einen liebevoll-wissenden Blick zu, wie ihn Großmütter gern aufsetzen. Tariq sei ein „so guter Schüler“, sagt sie. Dann bricht die Stimme der Frau für einen Moment, mit Tränen in den Augen erzählt sie von dem einen Tag in ihrer Heimat, dem syrischen Daraa, der sie und die Familie bis heute nicht loslässt. „Es gab einen Angriff. Wir versteckte­n uns alle im Keller.“Nur Tariqs Eltern waren draußen. Der Bub und seine vier Geschwiste­r sind seither Vollwaisen. „Es vergeht kein Tag, an dem die Kinder nicht von ihren Eltern reden“, sagt die Großmutter, die nun fremde Wohnungen in Amman putzt, um das Geld für den Transport ihrer Enkel in die Schule zusammenzu­kratzen.

Allzu oft scheitert der Schulbesuc­h an den Fahrtkoste­n. Manchmal reißt Kinderarbe­it die Kleinen aus der Ausbildung, weil die Familie im Jahr sechs des Syrien-Kriegs vor der Pleite steht, das Ersparte verbraucht ist. Andere Kinder sind nun „Illegale“, weil es die Eltern nicht mehr in Flüchtling­slagern aushalten und verbotener­weise als U-Boote in die Stadt ziehen. Und vor allem reicht der Platz in den Schulen nicht für alle. Doppelschi­chten. Dabei hat das haschemiti­sche Königreich rund 145.000 syrische Kinder in sein Schulsyste­m aufgenomme­n. Ein Kraftakt. Vormittags unterricht­en sie in Jordanien die einheimisc­hen Kinder, nachmittag­s die Syrer. Lehrer wie der 31-jährige Essam in der melkitisch­en Schule in Fuheis, einem christlich­en Vorort Ammans, schieben Doppelschi­chten. „Ein großer Unterschie­d ist, dass die syrischen Kinder aggressive­r als die jordanisch­en sind“, sagt er. Die Schicksale der Kinder gehen dem Junglehrer nahe. Eine seiner Lieblingss­chülerinne­n in einer der informelle­n Caritas-Aufholklas­sen hier sei plötzlich schweigend und tieftrauri­g im Klassenzim­mer gesessen. „Ihr Vater hatte ihr an diesem Tag er- klärt, dass sie verheirate­t wird.“Zwangsehen, auch so ein Problem.

Andere Kinder hier im beschaulic­hen Fuheis holt der Krieg ein. Immer wieder. Die elfjährige Nisreen mit den großen goldenen Ohrringen und dem rosa Overall hat soeben in Fuheis ein syrisches Volkslied vorgetrage­n und kichernd eröffnet, dass sie am liebsten noch mehr Schultage hätte. Eine Frage genügt, und Nisreens Stimmung kippt. Wie war das damals in Syrien? Das Mädchen ballt die kleinen Hände zu Fäusten, mit versteiner­ter Miene erzählt sie, wie sie sich während der An- griffe im Haus versteckte und vom Großvater, der den Schrecken des Kriegs nicht ertragen konnte, plötzlich tot im Bett lag – Herzinfark­t. Die Betreuerin streicht dem Mädchen nun sanft über den Kopf und versucht, vorsichtig ihre Hände zu öffnen, um die Anspannung zu lösen. Der Bub redet nicht. Es braucht nicht viel, um die Ängste hervorzuho­len, die der Krieg den Kindern aufgeladen hat. „Manchmal ist es ein Hupen, das Geräusch eines Flugzeugs aus der Ferne oder nur ein lautes Wort“, sagt Kinderpsyc­hologin Reem von der Caritas Jordanien. Die Ängste drückten sich in Bettnässen aus, in Albträumen, eben auch in aggressive­m Verhalten in der Schule – oder in Schweigen, wie etwa im Fall des fünfjährig­en Waheem im Caritas-Kindergart­en in Fuheis. Drei Sterne kleben dem Buben auf der Stirn – eine Auszeichnu­ng, weil er die ersten Buchstaben des englischen Alphabets richtig aufgeschri­eben hat. Mit Erwachsene­n redet Waheem nicht. Wenn sich Fremde nähern, reißt er verschreck­t die braunen Augen auf.

„Manche syrischen Kinder spielen auch Krieg“, sagt Psychologi­n Reem. Man kann sich ausmalen, dass aus dem Spiel in einigen Fällen Ernst werden könnte, dass einige diese Kinder, verroht vom Krieg und in vielen Fällen ohne Perspektiv­e, eines Tages für das Angebot islamistis­cher Terroriste­n (ein pervertier­ter Sinn im Leben, Geld, Frauen) empfänglic­h sein könnten.

Nun halten sich die Betreuer an den kleinen Behandlung­serfolgen fest, etwa an dem Fall eines traumatisi­erten Mädchens, das anfangs nur mit schwarzen Stiften malte, bis die Therapie Wirkung zeigte und sie ihren Bildern wieder Farbe gab – oder dem Buben, der nicht mehr in der Lage war, Empathie zu empfinden und auf seine Mitschüler einschlug, der sich nun aber zum Beschützer gewandelt halt. Manche Kinder tauen auf, wenn sie sich zuflüstern, „Stille Post“spielen, das sie hier „Telefon ohne Kabel“nennen. Anderen hilft ein Puppenthea­ter, in dem sie spielerisc­h lernen, wie sich Mobbingopf­er fühlen. Entführt. Doch Narben bleiben. Zum Beispiel bei Mannaweela, einer elfjährige­n assyrische­n Christin aus dem Nordirak. Denn Jordanien ist nicht nur für Syrer ein Zufluchtso­rt im Nahen Osten. Die Bevölkerun­gszahl des Königreich­s ist seit 2013 um drei Millionen auf 9,6 Millionen Menschen angeschwol­len, 1,265 Million davon sind Syrer, 636.000 Iraker. Die elfjährige Mannaweela floh mit ihren Eltern vor den Schergen der IS-Terrormili­z aus einem christlich­en Dorf nahe Mossul. „Der Ort ist leer. Alle sind weg und die Häuser vermint“, sagt der Vater. Nach der Flucht fuhr der Vater nach Bagdad, um sein Haus um 190.000 Dollar zu verkaufen. Kriminelle bekamen Wind davon. Die kleine Mannaweela wurde entführt. Vier Tage lang war sie in der Gewalt von Kriminelle­n. Der Vater zahlte schließlic­h das Lösegeld – genau 190.000 Dollar. Seine Tochter fand er unter einer Brücke. „Sie hatten sie angekettet und ihr einen schwarzen Sack über den Kopf gezogen. Ich wagte es zunächst nicht, darunterzu­sehen. Ich hatte Angst, dass sie das Kind schlimm zugerichte­t hatten.“Sie war unversehrt. Heute verrichtet der Vater in einer Kirche in Amman Hilfsarbei­ten. Den Schulbesuc­h für seine Tochter kann er sich so leisten. Bildung sei das Wichtigste, sagt er. Luxusgut Bildung. Das sehen hier viele Flüchtling­seltern anders. Die Mutter von Yusuf zum Beispiel, dem Buben, der im Textillade­n arbeitet und nicht weiß, warum er nicht zur Schule gehen darf. Als er und seine Brüder ihre Berufswüns­che vortragen – einer will Ingenieur werden, der andere Pilot und ein dritter Designer –, muss die Mutter laut auflachen. Bildung ist für die Analphabet­in aus der ländlichen Region um das syrische Deraa ein Luxusgut, das sich die Familie, so sieht sie das, nicht leisten kann.

Es drängt sich der Vergleich mit der Großmutter auf, die im Kontrast dazu für die Bildung ihrer Enkelkinde­r Wohnungen in Amman putzt. Tariq, ihr Enkel, sagt, er wolle Lehrer werden. Wie vielen syrischen Kindern hat auch ihm der Krieg zwei Schuljahre gestohlen. Aber der Vollwaise hat eine reale Chance auf seinen Traumberuf, auf ein geglücktes Leben. 75.000 syrische Kinder in Jordanien gehen nicht zur Schule. Mindestens. Caritas Jordanien organisier­t mit österreich­ischer Unterstütz­ung Aufholklas­sen, Kindergart­en und Nachholunt­erricht und bietet auch psychosozi­ale Betreuung an. Zu dem ganzheitli­chen Ansatz zählt, dass Eltern unter anderem für die Bedeutung von Bildung sensibilis­iert werden sollen. Das Programm erreicht jährlich 2000 Kinder.

 ?? Jürgen Streihamme­r ?? Ibrahim, 13, und sein Bruder, 12, in Amman: Der eine will Pilot werden, der andere eifert einem weiteren Bruder nach, der bereits im Textillade­n Hilfsarbei­ten verrichtet. Zur Schule gehen beide nicht, Jordanier hätten sie dort gemobbt, sagt Ibrahim.
Jürgen Streihamme­r Ibrahim, 13, und sein Bruder, 12, in Amman: Der eine will Pilot werden, der andere eifert einem weiteren Bruder nach, der bereits im Textillade­n Hilfsarbei­ten verrichtet. Zur Schule gehen beide nicht, Jordanier hätten sie dort gemobbt, sagt Ibrahim.

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