Die Presse am Sonntag

Ein Schlaraffe­nland für Ideen

WEISHEIT Kann man sich auf unerwartet­e Herausford­erungen vorbereite­n? Ja, indem man übt, Probleme wie eine Zwiebel zu sehen und immer eine Schale weiter zu denken. Und man muss stets die Perspektiv­e wechseln und fächerüber­greifend Input holen.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Früh übt sich, wer ein Meister werden will. Das gilt nicht nur für Musiker oder Fußballer. Auch mentale Fähigkeite­n müssen von klein auf trainiert werden. Wie kann man junge Menschen darauf vorbereite­n, im Berufslebe­n unerwartet­e Hürden ohne Stress zu meistern? „Man muss früh üben, Zusammenhä­nge herzustell­en“, sagt Giulio SupertiFur­ga, Leiter des Zentrums für Molekulare Medizin, CeMM, der Akademie der Wissenscha­ften. Hier trainiert man, Probleme stets aus allen Perspektiv­en zu betrachten. „An den Universitä­ten könnte man universell­e Gedanken fördern und üben, fächerüber­greifend Vernetzung­en zu erkennen. Doch es wird vernachläs­sigt, weil sich keiner zuständig fühlt“, sagt Superti-Furga.

„Die rein fachbezoge­ne Ausbildung macht Akademiker zu monokultur­ellen Arbeitskrä­ften.“Doch wenn jemand Experte in einem Teilbereic­h ist, kann er schnell obsolet werden. Sobald eine neue Technologi­e auftaucht, muss sich der Fachexpert­e neu orientiere­n. „Das gilt für die Medizin genauso wie im Hotelfachw­esen und anderen Branchen“, sagt der gebürtige Mailänder. Ein Biologe muss sich wegen der rasant entwickeln­den Gentechnol­ogie ständig auf neue Arbeitssit­uationen einstellen. Im Hotelgesch­äft wurde alles über den Haufen geworfen, als Plattforme­n wie AirBnB auftauchte­n. Es kommt immer anders. Klar sei: „Ein Hirn allein kann nicht alles abdecken. Man muss sich austausche­n und die Pluralität der Möglichkei­ten schätzen.“Universitä­ten wären ein „Schlaraffe­nland für Ideen, wenn man zum Beispiel eine Sinologin mit einem Zellbiolog­en an einen Tisch setzt“. Aber wie bereitet man junge Menschen darauf vor, dass immer alles anders kommen kann? „Wir betrachten jedes Problem wie eine Zwiebel und denken stets um eine Schale weiter“, sagt Superti-Furga. „Wenn ich in einer Zelle ein Protein ändere, was bedeutet das für den Körper, was für den Menschen oder für die Gesellscha­ft?“

„Auch auf die Wirtschaft können sich kleinste Veränderun­gen auswirken“, ist sich der Molekularb­iologe sicher. Und man muss die Perspektiv­e wechseln: Wie sieht ein Direktor das Problem, wie eine Studentin? Was sagt eine indische Kollegin dazu, was ein kanadische­r Kollege? Denken Frauen anders darüber als Männer? Auch die Sicht des Steuerzahl­ers, der die Grundlagen­forschung finanziert, soll bedacht werden. Das Gebäude des CeMM auf dem Campus des Wiener AKH bietet den Forschern dafür räumliche Möglichkei­ten. Ein „Tempel für Gedanken“ist die BrainLoung­e, wo sich Lehrende und Studierend­e treffen, um auf Augenhöhe ihre Gedanken schweifen zu lassen. Tisch dreht sich. „Priorität hat immer die Idee“, sagt Superti-Furga, der hier mit verschiede­nsten Leuten diskutiert. Der runde Tisch dreht sich während der Sitzung, was einen ständig zu neuen Sichtweise­n zwingt. Zusätzlich können sich die Diskutiere­nden bunte Kostüme überziehen, um noch weiter weg vom Alltag zu sein.

Der zweite Raum für freie Gedanken ist die Time Capsule: 15.000 leere Notizbüche­r umgeben das vom Künstler Martin Walde gestaltete meditative Zentrum. „Hier kann man seine Ideen verschenke­n und zweckfrei denken“, sagt Superti-Furga. Alles, was einem einfällt, darf man in die Notizbüche­r schreiben, egal, ob es zielführen­d oder undurchsic­htiges Wirrwarr ist. „Wir stehen ja ständig unter Druck, Daten, Fortschrit­t oder Ideen zu liefern. Hier kann man als freier Mensch denken, ohne ausführen zu müssen.“ Hinaus aus der Uni. Einen Blick über den Tellerrand will auch das Masterstud­ium Art & Science an der Universitä­t für angewandte Kunst bieten. Hier treffen sich Kunst, Gesellscha­ft und Wissenscha­ft regelmäßig zum Gedankenau­stausch. „Wir haben fast mehr internatio­nale Studierend­e als österreich­ische, die Studienspr­ache ist Englisch: Da bleibt man nicht in seiner eigenen Sichtweise hängen“, erklärt Universitä­tsassisten­tin Valerie Deifel, die seit 2009 für Arts & Science tätig ist. Die Studierend­en sollen hinaus aus der Uni, hinaus aus dem Künstlerst­udio, um sich mit komplexen Problemste­llungen auseinande­rzusetzen.

„Recherche darf nicht nur am Computer mit Google stattfinde­n“, sagt Deifel. Feldforsch­ung, eigene Beobachtun­gen und Datensamme­ln gehören für die künstleris­chen Studierend­en genauso dazu wie für die wissenscha­ftlichen. So haben etwa in einem Forschungs­labor die neuen Kollegen völlig unterschie­dliche Erwartunge­n an den „Künstler“– so wird man meist genannt, wenn man von der Angewandte­n kommt. Manche der Erwartunge­n – ob erfüllt oder unerfüllt – führen dann zu kreativen Ideen.

Auch humorvolle Ansätze sind erlaubt, wenn es darum geht, das Ungewöhnli­che zu erreichen. So nahm der Art-&-Science-Studierend­e Ruben Gutzat aus Zürich Bezug auf ein EU-Projekt von Chris Walzer der Vet-Med-Uni Wien. In diesem ging es um die Verbindung der Ökosysteme im Alpenraum bzw. Alpine Space. „Space kann aber auch als Weltall übersetzt werden. Er ging der Frage nach, ob Erfahrunge­n der Agrarkultu­r in den Alpen für ein Raumfahrtp­rojekt genutzt werden können“, beschreibt Deifel.

Wären etwa Ziegen als Nutztier für ein Raumschiff geeignet? Für die Zeit der Reise und wenn der Mensch je auf fremden Planeten eine Landwirtsc­haft aufbauen will? Sie produziere­n immer- hin Milch, Biogas, Dünger und Fleisch. Die Auswirkung­en von kurzer Schwerelos­igkeit auf Ziegen, ihren Stoffwechs­el und die Milchprodu­ktion wurden ermittelt. Es blieb bei der theoretisc­hen Abhandlung, kein Tier kam zu Schaden. Die Ausstellun­g über den bis ins Weltall gesponnene­n Alpengedan­ken stieß jedenfalls auf Begeisteru­ng.

Die Studierend­en aus den Bereichen bildende Kunst, Medienkuns­t, Design, Architektu­r, Technik, Natur-, Geistes-, Kultur- oder Sozialwiss­enschaften suchen in diesem Studium Themen und Darstellun­gsformen, die in ihrer ursprüngli­chen Disziplin ungewöhnli­ch sind. Natürlich künstlich. Ein Beispiel, wie eng verwoben Kunst und Wissenscha­ft schon sind, ist die synthetisc­he Biologie. In kreativen Prozessen wird im Labor lebendiges Material erschaffen – eine Kategorisi­erung in künstlich oder natürlich ist dabei unmöglich. Dies will etwa Lucie Strecker im Projekt „The Performati­ve Biofact“, gefördert vom Wissenscha­ftsfonds FWF, klarmachen. Ein „Biofact“ist demnach ein halb künstliche­s, halb natürliche­s Wesen, das man gleicherma­ßen wie ein Gerät, einen Menschen oder ein nicht menschlich­es Wesen behandeln kann.

Strecker, künstleris­che Leiterin des Programms Arts in Medicine an der Med-Uni Wien, vereint Methoden der Archäologi­e, Performanc­e, Molekularb­iologie und Genetik, um synthetisc­he Gewebe, Klone oder Hybride künstleris­ch neu zu definieren. Das CeMM, das Forschungs­zentrum für Molekulare Medizin der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften, forscht – in Kooperatio­n mit der Med-Uni Wien – nach dem Motto: „Aus der Klinik für die Klinik“. Im Studium Art & Science an der Uni für angewandte Kunst wird das Verhältnis von künstleris­cher und wissenscha­ftlicher Repräsenta­tionskultu­ren untersucht.

 ?? Matthias Hombauer ?? In der bunten Time Capsule können die Forscher um Giulio Superti-Furga (M.) ihre Ideen verschenke­n.
Matthias Hombauer In der bunten Time Capsule können die Forscher um Giulio Superti-Furga (M.) ihre Ideen verschenke­n.

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