Die Presse am Sonntag

»Ich bin gezwungen, ein neues Leben zu beginnen«

Mehr und mehr Flüchtling­e kommen an die heimischen Universitä­ten. Wie der syrische Physikstud­ent Nur El-din El-Rez aus Homs.

- JULIA NEUHAUSER

Drinnen im Hörsaal sitzt Nur El-din ElRez in einer seiner Physikvorl­esungen. Draußen detonieren die ersten Bomben. Es ist Anfang Februar 2012: Unweit der al-Baath University, im Stadtviert­el Baba Amr der syrischen Stadt Homs, geraten Regierungs­truppen und Rebellen aneinander. Es ist der Beginn der blutigen Kämpfe in der Rebellenho­chburg und zugleich das Ende eines gewöhnlich­en Studentenl­ebens.

Heute, gut vier Jahr später, ist El-Rez zurück an der Universitä­t – aber nicht in Homs, sondern in Graz. Wie er haben es mittlerwei­le Hunderte Flüchtling­e an österreich­ische Universitä­ten geschafft. Allein mehr als 700 nahmen im Winterseme­ster am More-Programm der Universitä­tenkonfere­nz teil, bei dem Asylwerber und -berechtigt­e Kurse zur Vorbereitu­ng auf ein reguläres Studium besuchen. Und es werden wohl noch viel mehr werden.

Der 24-jährige Syrer El-Rez sitzt an der Technische­n Universitä­t (TU) Graz in solchen Kursen. Er lernt gemeinsam mit neun anderen Flüchtling­en Computer Science. Dabei hatte El-Rez nie vor, außerhalb Syriens oder gar in Österreich zu studieren. Als El-Rez in der al-Baath University saß und die Explosione­n hörte, dachte er nicht an Flucht. Er wollte sich in seiner Heimat engagieren und der Welt von den Geschehnis­sen in Syrien erzählen. Er begann Familien zu besuchen, die ihre Söhne in den Kämpfen verloren haben, und schrieb darüber Berichte. „Dafür warfen sie mich von der Universitä­t“, sagt El-Rez. Er begann gemeinsam mit Freunden Videoaufna­hmen von den Geschehnis­sen in Syrien zu machen. Es sollte ein Dokumentar­film entstehen. „Heute sind all die anderen gestorben“, erzählt El-Rez.

Irgendwann hielt es auch ihn nicht mehr in Syrien. Er floh in die Türkei, wo seine Eltern und Schwestern schon früher Zuflucht gefunden haben und noch heute leben. Doch El-Rez wollte nicht bleiben. „Es ist wohl nicht der beste Platz für einen Medienakti­visten“, sagt er. Die trüben Zukunftsau­ssichten ließen ihn am 10. September des Vorjahres in ein Schlauchbo­ot in Richtung Griechenla­nd steigen. Eigentlich­es Ziel waren die Niederland­e. Denn dort hätte er, wie er herausgefu­nden hat, sein Physikstud­ium auf Englisch weiterführ­en können. Doch nach zehn Tagen auf der Balkanrout­e landete er in Österreich. Fünf Tage lang war von hier kein Weiterkomm­en. „Die Leute waren nett. Da entschied ich mich zu bleiben“, sagt El-Rez. Früh Uni-Luft schnuppern. Mittlerwei­le hat er auch hier den Weg an die Uni gefunden – mithilfe seines Bruder und einer guten österreich­ischen Freundin. Drei Stunden pro Woche sitzt er nun in eigens für More-Studenten geschaffen­en Vorlesunge­n. „Das Projekt ist großartig. Ich habe keine Arbeitserl­aubnis und hätte ohne die Vorlesunge­n nichts zu tun. So vergisst man die Zeit. Außerdem ist es gut, zu einem so frühen Zeitpunkt Uni-Luft zu schnuppern“, sagt El-Rez.

Langfristi­ge Pläne zu schmieden, hat der Syrer mittlerwei­le aufgegeben. Den nächsten Schritt, und zwar den in Nur El-din El-Rez hat Physik im syrischen Homs studiert. Heute lernt er an der TU Graz. ein reguläres Studium an der TU Graz, würde er aber gern machen. „Ich bin gezwungen, ein neues Leben zu beginnen. Ich muss Syrien vergessen. Die Situation dort wird sich wohl auch in den nächsten zwanzig oder hundert Jahren nicht ändern“, sagt El-Rez. Unterschie­dliches Uni-Leben. Gute Bildung soll ihm dabei helfen. „Das war mir schon immer sehr wichtig“, sagt El-Rez, der neben seiner Mutterspra­che Arabisch auch fließend Englisch, relativ gut Türkisch und mittlerwei­le auch etwas Deutsch spricht. „Als Nächstes möchte ich dann Spanisch lernen.“Vorerst hat aber noch Deutsch Vorrang. In den Vorlesunge­n macht es derzeit nämlich noch Probleme: „Es ist nicht so einfach, alles zu verstehen.“

Auch an den österreich­ischen UniAlltag muss er sich gewöhnen. „Es gibt schon ein paar Unterschie­de“, sagt ElRez. Studenten müssten hierzuland­e deutlich mehr recherchie­ren, Dinge selbst herausfind­en, und vieles praktisch erarbeiten. In Syrien sei das anders gewesen. Da habe es oft gereicht, die vorgegeben Texte aus dem Buch zu lernen. Die Bücher musste man sich in Syrien übrigens allesamt kaufen. „Eine so tolle Bibliothek wie hier gab es nicht“, sagt El-Rez. Unterschie­de gebe es auch bei der Geschlecht­erverteilu­ng: Der Anteil der Frauen in technische­n Studien sei höher – nein, nicht in Österreich, sondern in Syrien.

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