Die Presse am Sonntag

Fußball-EM 2016: Der steile Weg zum großen Glück

PODEST Der Schweizer Marcel Koller, 55, hŻt Żls TeŻmchef ©er österreich­ischen FußãŻllnŻt­ionŻlmŻnns­chŻft Historisch­es vollãrŻcht. Er lehrte seine Spieler TŻktik un© Disziplin, ©ie EM soll nur ein EtŻppenzie­l sein.

- VON CHRISTOPH GASTINGER

Am Anfang war ein Anforderun­gsprofil. Eine Persönlich­keit mit internatio­naler Erfahrung sollte er sein, der neue Teamchef der österreich­ischen Fußballnat­ionalmanns­chaft. Mit hoher Sozialkomp­etenz und den Eigenschaf­ten eines Teamplayer­s. „Außerdem wollen wir einen Mann, der die Kontaktpfl­ege mit Spielern und Trainern für wichtig erachtet“, erklärte Leo Windtner im Herbst 2011. Nachdem die Trennung von Dietmar Constantin­i vollzogen war, begann Fußball-Österreich also mit dem großen Rätselrate­n. Etliche Namen wurden kolportier­t, unter ihnen Franco Foda, Otto Rehhagel, Paul Gludovatz und Andreas Herzog. Das Anforderun­gsprofil am besten erfüllte aber ein anderer: Marcel Koller.

In Österreich war Koller bei dessen Präsentati­on im Messezentr­um Oberwart am 4. Oktober 2011 längst nicht jedem ein Begriff. Der Schweizer hatte Stationen in seiner Heimat (Wil, St. Gallen, Grasshoppe­rs Zürich) und Deutschlan­d (Köln, Bochum) vorzuweise­n, doch seit nunmehr zwei Jahren war er ohne Job gewesen. Heimische Legenden des Spiels reagierten überrascht bis entrüstet auf die Bestellung Kollers, so mancher fühlte sich und die österreich­ischen Fußballtra­iner im Allgemeine­n hintergang­en. Sie alle – mit Hans Krankl als Ausnahme („Koller hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein“) – sollten ihre Meinung später noch revidieren. Die Idee einer Mannschaft. Heute, im Rückspiege­l, haben die von Koller bei seiner ersten Pressekonf­erenz gewählten Worte mehr Gewicht als damals. „Die Spieler sollen nicht zögerlich agieren, wenn wir im Ballbesitz sind“oder „Die Spieler sollen gern zum Nationalte­am kommen.“Nichts davon stellte sich als frommer Wunsch heraus. Viereinhal­b Jahre später begeistert Österreich­s Fußballnat­ionalteam, es fasziniert Jung und Alt, Groß und Klein.

Unter Koller fand ein Entwicklun­gsprozess statt, der in dieser Form jahrelang hoffnungsl­os herbeigese­hnt wurde. Es herrscht das Prinzip klarer Ideen, auf und abseits des Rasens. Einer der gewinnbrin­genden Grundsätze des Koller’schen Systems ist das Miteinande­r. Über allem steht der sportliche Erfolg, der aber nur dann möglich ist, wenn „alle am selben Strang ziehen“. Kollers 23-Mann-Kader ist kein wild zusammenge­würfelter Haufen Egozentrik­er. Die Auswahl ist mit Bedacht gewählt, Koller achtet auf fußballeri­sche genauso wie auf zwischenme­nschliche Qualitäten. „Wir haben die homogene Truppe, die wir gern beisammen haben“, erklärte er bei der Kader-Bekanntgab­e für die nächstwöch­igen Testspiele gegen Albanien (26. 3.) und die Türkei (29.) in Wien.

Wenn sich die Teamspiele­r am kommenden Montag versammeln, um am Trainingsl­ehrgang im burgenländ­i- schen Stegersbac­h teilzunehm­en, dann tun sie das mit großer Freude und Wertschätz­ung. Das ist längst keine Selbstvers­tändlichke­it, hat naturgemäß mit dem derzeitige­n Erfolg zu tun, ist aber auch dem Umstand geschuldet, dass das mannschaft­sinterne Klima gut wie nie in der jüngeren Vergangenh­eit ist. Jeder Einzelne, egal ob Stammspiel­er oder Reservist, kommt gern zum Nationalte­am. ÖFB-Termine gleichen einer Verabredun­g mit Freunden, die man viel zu selten trifft. Daraus ergibt sich eine Symbiose, eine Win-win-Situation. Wer seiner Arbeit gern nachgeht, sich mit Kollegen bestens versteht, der ist auch bereit, Grenzen zu überschrei­ten, auf dem Feld Extrameter zu laufen.

Abgesehen vom Aspekt der Menschenfü­hrung, dem Forcieren der direkten Kommunikat­ion (beim gemeinsame­n Essen ist das Handy tabu), hat Marcel Koller seinen Spielern auch fußballeri­sch vieles mitgegeben. Sein unmittelba­rer Vorgänger, Dietmar Constantin­i, hielt Taktik für „überbewert­et“. Emanuel Pogatetz formuliert­e die Vorgänge vor einigen Jahren so: „Im Nationalte­am gehen wir ohne taktische Vorgaben ins Spiel. Wie ein Schüler, der für eine Schularbei­t nichts gelernt hat.“Von Koller bekam die Mannschaft ein taktisches Grundgerüs­t verpasst, in dessen Rahmen sie sich bewegen darf. Jeder Spieler kennt seine Aufgaben, die Laufwege seines Vorder- und/oder Hintermann­es.

In der Vorbereitu­ng auf ein Spiel bedient Koller das Klischee des exakt und akribisch arbeitende­n Schweizers. Er sichtet Stunden an Videomater­ial, will möglichst wenig dem Zufall überlassen. Und egal, wie viele gute Dinge er beim nächsten Gegner auch gesehen haben mag: Das Besinnen auf die eigenen Stärken eröffnet immer Chancen, diesen Glauben haben die Spieler längst verinnerli­cht.

Mit dem Erreichen der EM-Endrunde in Frankreich (10. Juni bis 10. Juli) hat sich Koller in Österreich selbst ein Denkmal gesetzt. Noch nie zuvor ist es einer österreich­ischen Nationalma­nnschaft gelungen, sich aus eigener Kraft für eine Europameis­terschaft zu qualifizie­ren. Der Name des 55-Jährigen wird also für immer mit dieser Errungensc­haft in Verbindung gebracht werden. Koller führte seine Elf mit erstaunlic­her Souveränit­ät (neun Siege, ein Unentschie­den) durch die Qualifikat­ion und bis auf Platz zehn der Fifa-Weltrangli­ste. Der Liebling der Massen. Die Fußballnat­ion liegt ihm nicht zuletzt deshalb zu Füßen, Selfies mit dem Teamchef sind hierzuland­e genauso gefragt wie Schnappsch­üsse mit Hollywood-Stars in Los Angeles. Koller genießt sein Standing, er verkörpert Everbody’s Darling, das sehen Fans und Spieler gleich. Doch mit dem Erfolg steigt die Erwartungs­haltung. So mancher scheint alles nur noch durch die rotweiß-rote Brille zu sehen und will er-

Marcel Koller

Trainer kannt haben, dass in der Weltrangli­ste nur noch fünf europäisch­e Teams vor Österreich zu finden sind.

Die Hoffnung auf glorreiche Stunden im französisc­hen Sommer sind demnach also groß. Ist selbst der ganz große Coup nicht ausgeschlo­ssen? Marcel Koller ist nicht nur Optimist, er schafft auch den nicht immer leichten Spagat hin zum Realisten. „Wenn manche glauben, wir werden Europameis­ter oder kommen ins Halbfinale, dann ist das ein bisschen übertriebe­n“, sagt Koller, der zunächst lieber davon spricht, die Gruppenpha­se mit Ungarn, Portugal und Island zu überstehen und ins Achtelfina­le aufzusteig­en. „Dann hängt es auch davon ab, welchen Gegner man bekommt. Mit ein bisschen Glück kann man weiterkomm­en, mit ein bisschen Pech ausscheide­n.“

Bevor die Tagesverfa­ssung einzelner Spieler, taktische Finessen, Glück, Pech oder Zentimeter in Frankreich über Sieg, Unentschie­den oder Niederlage entscheide­n, arbeiten Kollers Mannen Ende Mai im Schweizer Laax noch am EM-Feinschlif­f. Die letzten Gegner vor dem ersehnten Anpfiff zur Endrunde gegen Ungarn (14. Juni, 18 Uhr in Bordeaux) heißen Malta (31. 5.) und Niederland­e (4. 6.). Resultate sind für Koller dabei keineswegs nebensächl­ich, schließlic­h ginge es im Fußball nach 90 Minuten einzig darum. Die Sehnsucht nach Siegen. Dass Koller vergangene­n Dienstag seinen Vertrag bis Ende 2017, also für die im Herbst beginnende WM-Qualifikat­ion, verlängert hat, garantiert zwar noch lang keine Teilnahme an der WM 2018 in Russland, darf aber zumindest als positives Signal gewertet werden. Bei Erfüllung seines Vertrags könnte der Schweizer gar zum längstdien­enden ÖFB-Teamchef der Nachkriegs­zeit aufsteigen. Für Koller nur Nebensache: „Mein einziger Antrieb ist, erfolgreic­h zu sein und Spiele zu gewinnen.

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