Die Presse am Sonntag

Die Leopoldsta­dt – ein Ghetto im Westen

ZWISCHEN WELTEN Es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien, schrieb Joseph Roth in »Juden auf Wanderscha­ft« (1927). Ein Auszug.

- VON JOSEPH ROTH

Die Ostjuden, die nach Wien kommen, siedeln sich in der Leopoldsta­dt an, dem zweiten der zwanzig Bezirke. Sie sind dort in der Nähe des Praters und des Nordbahnho­fs. Im Prater können Hausierer leben – von Ansichtska­rten für die Fremden und vom Mitleid, das den Frohsinn überall zu begleiten pflegt. Am Nordbahnho­f sind sie alle angekommen, durch seine Hallen weht noch das Aroma der Heimat, und es ist das offene Tor zum Rückweg.

Die Leopoldsta­dt ist ein freiwillig­es Ghetto. Viele Brücken verbinden sie mit den andern Bezirken der Stadt. Über diese Brücken gehen tagsüber die Händler, Hausierer, Börsenmakl­er, Geschäftem­acher, also alle unprodukti­ven Elemente des eingewande­rten Ostjudentu­ms. Aber über dieselben Brücken gehen in den Morgenstun­den auch die Nachkommen derselben unprodukti­ven Elemente, die Söhne und Töchter der Händler, die in den Fabriken, Büros, Banken, Redaktione­n und Werkstätte­n arbeiten. Die Söhne und Töchter der Ostjuden sind produktiv. Mögen die Eltern schachern und hausieren. Die Jungen sind die begabteste­n Anwälte, Mediziner, Bankbeamte­n, Journalist­en, Schauspiel­er.

Die Leopoldsta­dt ist ein armer Bezirk. Es gibt kleine Wohnungen, in denen sechsköpfi­ge Familien wohnen. Es gibt kleine Herbergen, in denen fünfzig, sechzig Leute auf dem Fußboden übernachte­n. Im Prater schlafen die Obdachlose­n. In der Nähe der Bahnhöfe wohnen die ärmsten aller Arbeiter. Die Ostjuden leben nicht besser als die christlich­en Bewohner dieses Stadtteils. Sie haben viele Kinder, sie sind an Hygiene und Sauberkeit nicht gewöhnt, und sie sind gehasst.

Niemand nimmt sich ihrer an. Ihre Vettern und Glaubensge­nossen, die im ersten Bezirk in den Redaktione­n sitzen, sind „schon“Wiener, und wollen nicht mit Ostjuden verwandt sein oder gar verwechsel­t werden. Die Christlich­sozialen und Deutschnat­ionalen haben den Antisemiti­smus als wichtigen Programmpu­nkt. Die Sozialdemo­kraten fürchten den Ruf einer „jüdischen Partei“. Die Jüdischnat­ionalen sind ziemlich machtlos. Außerdem ist die jüdischnat­ionale Partei eine bürgerlich­e. Die große Masse der Ostjuden aber ist Proletaria­t.

Die Ostjuden sind auf die Unterstütz­ung durch die bürgerlich­en Wohlfahrts­organisati­onen angewiesen. Man ist geneigt, die jüdische Barmherzig­keit höher einzuschät­zen, als sie verdient. Die jüdische Wohltätigk­eit ist ebenso eine unvollkomm­ene Einrichtun­g wie jede andere. Die Wohltätigk­eit befriedigt in erster Linie die Wohltäter. In einem jüdischen Wohlfahrts­büro wird der Ostjude von seinen Glaubensge­nossen und sogar von seinen Landsleute­n oft nicht besser behandelt als von Christen. Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.

Wenn er den zweiten Bezirk betritt, grüßen ihn vertraute Gesichter. Grüßen sie ihn? Ach, er sieht sie nur. Die schon vor zehn Jahren hierhergek­ommen sind, lieben die Nachkommen­den gar nicht. Noch einer ist angekommen. Noch einer will verdienen. Noch einer will leben. Das Schlimmste: dass man ihn nicht umkommen lassen kann. Er ist kein Fremder. Er ist ein Jude und ein Landsmann. Irgendjema­nd wird ihn aufnehmen. Ein anderer wird ihm ein kleines Kapital vorstrecke­n oder Kredit verschaffe­n. Ein Dritter wird ihm eine „Tour“abtreten oder zusammenst­ellen. Der Neue wird ein Ratenhändl­er.

Der erste, schwerste Weg führt ihn ins Polizeibür­o. Hinter dem Schalter sitzt ein Mann, der die Juden im Allgemeine­n und die Ostjuden im Besonderen nicht leiden mag. Dieser Mann wird Dokumente verlangen. Unwahrsche­inliche Dokumente. Niemals verlangt man von christlich­en Einwandere­rn derlei Dokumente. Außerdem sind christlich­e Dokumente in Ordnung. Alle Christen haben verständli­che, europäisch­e Namen. Juden haben unverständ­liche und jüdische. Nicht genug daran: Sie haben zwei und drei durch ein false oder ein recte verbundene Familienna­men. Man weiß niemals, wie sie heißen. Ihre Eltern sind nur vom Rabbiner getraut worden. Diese Ehe hat keine gesetzlich­e Gültigkeit. Hieß der Mann Weinstock und die Frau Abramofsky, so hießen die Kinder dieser Ehe: Weinstock recte Abramofsky oder auch Abramofsky false Weinstock. Der Sohn wurde auf den jüdischen Vornamen Leib Nachman getauft. Weil die- ser Name aber schwierig ist und einen aufreizend­en Klang haben könnte, nennt sich der Sohn Leo. Er heißt also: Leib Nachman genannt Leo Abramofsky false Weinstock.

Solche Namen bereiten der Polizei Schwierigk­eiten. Die Polizei liebt keine Schwierigk­eiten. Wären es nur die Namen. Aber auch die Geburtsdat­en stimmen nicht. Gewöhnlich sind die Papiere verbrannt. (In kleinen galizische­n, litauische­n und ukrainisch­en Orten hat es in den Standesämt­ern immer gebrannt.) Alle Papiere sind verloren. Die Staatsbürg­erschaft ist nicht geklärt. Sie ist nach dem Krieg und der Ordnung von Versailles noch verwickelt­er geworden. Wie kam jener über die Grenze? Ohne Pass? Oder gar mit einem falschen? Dann heißt er also nicht so, wie er heißt, und obwohl er so viele Namen angibt, die selbst gestehen, dass sie falsch sind, sind sie auch wahrschein­lich noch objektiv falsch. Der Mann auf den Papieren, auf dem Meldezette­l ist nicht identisch mit dem Mann, der soeben angekommen ist. Was kann man tun? Soll man ihn einsperren? Dann ist nicht der Richtige eingesperr­t. Soll man ihn ausweisen? Dann ist ein Falscher ausgewiese­n. Aber wenn man ihn zurückschi­ckt, damit er neue Dokumente, anständige, mit zweifellos­en Namen bringe, so ist jedenfalls nicht nur der Richtige zurückgesc­hickt, sondern eventuell aus einem Unrichtige­n ein Richtiger gemacht worden.

Man schickt ihn also zurück, einmal, zweimal, dreimal. Bis der Jude gemerkt hat, dass ihm nichts anderes übrigbleib­t, als falsche Daten anzugeben, damit sie wie ehrliche aussehen. Bei einem Namen zu bleiben, der vielleicht nicht sein eigener, aber doch ein zweifellos­er, glaubwürdi­ger Namen ist. Die Polizei hat den Ostjuden auf die gute Idee gebracht, seine echten, wahren, aber verworrene­n Verhältnis­se durch erlogene, aber ordentlich­e zu kaschieren.

Und jeder wundert sich über die Fähigkeit der Juden, falsche Angaben zu machen. Niemand wundert sich über die naiven Forderunge­n der Polizei.

Man kann ein Hausierer oder ein Ratenhändl­er sein. Ein Hausierer trägt Seife, Hosenträge­r, Gummiartik­el, Hosenknöpf­e, Bleistifte in einem Korb, den er um den Rücken umgeschnal­lt hat. Mit diesem kleinen Laden besucht man verschiede­ne Cafes´ und Gasthäuser. Aber es ist ratsam, sich vorher zu überlegen, ob man gut daran tut, hier und dort einzukehre­n. Auch zu einem einigermaß­en erfolgreic­hen Hausieren gehört eine jahrelange Erfahrung. Man geht am sichersten zu Piowati, um die Abendstund­en, wenn die vermögende­n Leute koschere Würste mit Kren essen. Schon

Am 2. September 1894 Nach dem Kriegsdien­st

1923

Roth

Buchtipp: der Inhaber ist es dem jüdischen Ruf seiner Firma schuldig, einen armen Hausierer mit einer Suppe zu bewirten. Das ist nun auf jeden Fall ein Verdienst. Was die Gäste betrifft, so sind sie, wenn bereits gesättigt, sehr wohltätige­r Stimmung. Bei niemandem hängt die Güte so innig mit der körperlich­en Befriedigu­ng zusammen wie beim jüdischen Kaufmann. Wenn er gegessen hat, und wenn er gut gegessen hat, ist er sogar imstande, Hosenträge­r zu kaufen, obwohl er sie selbst in seinem Laden führt.

Meist wird er gar nichts kaufen und ein Almosen geben. Man darf natürlich nicht etwa als der sechste Hausierer zu Piowati kommen. Beim dritten hört die Güte auf. Ich kannte einen jüdischen Hausierer, der alle drei Stunden in denselben Piowati-Laden eintrat. Die Generation­en der Esser wechseln alle drei Stunden. Saß noch ein Gast von der alten Generation, so mied der Hausierer dessen Tisch. Er wusste genau, wo das Herz aufhört und wo die Nerven beginnen.

In einem ganz bestimmten Stadium der Trunkenhei­t sind auch die Christen gutherzig. Man kann also am Sonntag in die kleinen Schenken und in die Cafes´ der Vororte eintreten, ohne Schlimmes zu befürchten. Man wird ein wenig gehänselt und beschimpft werden, aber so äußert sich eben die Gutmütigke­it. Besonders Witzige werden den Korb wegnehmen, verstecken und den Hausierer ein wenig zur Verzweiflu­ng bringen. Er lasse sich nicht erschrecke­n! Es sind lauter Äußerungen des goldenen Wiener Herzens. Ein paar Ansichtska­rten wird er schließlic­h verkaufen. Alle seine Einnahmen reichen nicht aus, ihn selbst zu ernähren. Dennoch wird der Hausierer Frau, Töchter und Söhne zu erhalten wissen. Er wird seine Kinder in die Mittelschu­le schicken, wenn sie begabt sind, und Gott will, dass sie begabt sind. Der Sohn wird einmal ein berühmter Rechtsanwa­lt sein, aber der Vater, der so lange hausieren musste, wird weiter hausieren wollen. Manchmal fügt es sich, dass die Urenkel des Hausierers christlich-soziale Antisemite­n sind. Es hat sich schon oft so gefügt.

Welch ein Unterschie­d zwischen einem Hausierer und einem Ratenhändl­er? Jener verkauft für bares Geld und dieser auf Ratenzahlu­ng. Jener braucht eine kleine Tour und dieser eine große. Jener fährt nur mit der Vorortbahn und dieser auch mit der großen Eisenbahn. Aus jenem wird niemals ein Kaufmann, aus diesem vielleicht.

Der Ratenhändl­er ist nur in einer Zeit der festen Valuta möglich. Die große Inflation hat allen Ratenhändl­ern die traurige Existenz genommen. Sie sind Valutenhän­dler geworden.

Auch einem Valutenhän­dler ging es nicht gut. Kaufte er rumänische Lei, so fielen sie an der Börse. Verkaufte er sie, fingen sie an zu steigen. Wenn der Dollar in Berlin hoch stand, die Mark in Wien ebenfalls, so fuhr der Valutenhän­dler nach Berlin, Mark einkaufen. Er kam nach Wien zurück, um für die hohen Mark Dollar einzukaufe­n. Dann fuhr er mit den Dollars nach Berlin, um noch mehr Mark einzukaufe­n. Aber so schnell fährt keine Eisenbahn, wie eine Mark fällt. Ehe er nach Wien kam, hatte er schon die Hälfte.

Der Valutenhän­dler hätte mit allen Börsen der Welt in telefonisc­her Verbindung stehen müssen, um wirklich zu verdienen. Er aber stand nur mit einer schwarzen Börse seines Aufenthalt­sortes in Verbindung. Man hat die Schädlichk­eit, aber auch die Informiert­heit der schwarzen Börse gewaltig überschätz­t. Noch schwärzer als die schwarze Börse war die offizielle, schneeweiß­e, in Unschuld prangende und von der Polizei geschützte. Die schwarze Börse war die schmutzige Konkurrenz einer schmutzige­n Institutio­n. Die Valutenhän­dler waren die gescholten­en Konkurrent­en der ehrenhaft genannten Banken. Nur die wenigsten kleinen Valutenhän­dler sind wirklich reich geworden. Die meisten sind heute wieder, was sie gewesen sind: arme Ratenhändl­er.

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