Die Presse am Sonntag

Die Geschichte der Villa Emma

Wie 73 jüdische Kinder mitten im Zweiten Weltkrieg quer durch Europa flüchteten und im italienisc­hen Dorf Nonantola Schutz vor den Nazis fanden.

- VON UND

Selbst heute erinnert sich Schoschana Harari noch an jedes Detail. Im nächsten Jahr wird sie 90 Jahre alt, doch an ihrem Gedächtnis hat das Alter der agilen, kleinen Dame keine Spuren hinterlass­en. Es war im Jänner 1941, als für die Berlinerin eine fünfjährig­e Odyssee begann. Durch drei Länder führte die unfreiwill­ige Reise, die 29 deutschen und 13 Wiener Kindern das Leben retten sollte. Viele hatten miterlebt, wie der Vater im Konzentrat­ionslager ums Leben kam. Sie hatten sich von Mutter und Geschwiste­rn losgerisse­n, als sich die unerwartet­e Fluchtgele­genheit bot. Harari ist die Einzige ihrer fünfköpfig­en Familie, die den Nationalso­zialisten entkommen konnte: Vater, Mutter und kleiner Bruder verendeten im KZ, der große Bruder fiel in Russland.

Mitten im Winter begann die Flucht der Kinder und Jugendlich­en. Sie kamen aus allen Richtungen, aus Hamburg, Frankfurt, Leipzig, Berlin und Wien. Von Graz aus ging es über steile, verschneit­e Bergpfade über die Grenze nach Jugoslawie­n. „Es war kalt, wir trugen Rucksäcke, und wir hatten Angst“, erinnert sich die damals 13-Jährige. Das letzte Stück habe sie ein Schmuggler getragen, sie war zu erschöpft. Den Nazis immer einen Schritt voraus, führte die gefährlich­e Irrfahrt von Zagreb ins heutige Slowenien, weiter nach Nonantola in Italien und über die Schweiz nach Palästina.

Ihre Rettung verdankten die Kinder der deutsch-jüdischen Widerstand­skämpferin Recha Freier. Sie hatte 1933 die Jugend-Alija gegründet. Eine Organisati­on, die minderjähr­igen Juden den Weg aus der Verfolgung und die Einwanderu­ng nach Palästina ermöglicht­e. Über den links-zionistisc­hen Jugendverb­and Haschomer Hazair stieß Freier 1941 auf den 23-jährigen Josef Indig. Er wurde zu einer der wichtigste­n Bezugspers­onen der Kinder. „Er war ein Genie“, berichtet Siegfried Kirschenba­um über den Mann, dem er sein Leben verdankt. Mit seinen wachen Augen und dem vollen weißen Haar sieht er nicht aus wie 90. „Er hatte immer das richtige Gespür, wusste Gefahren richtig einzuschät­zen.“

Kirschenba­um, zu Kriegsausb­ruch 14 Jahre alt, floh wie Harari aus Berlin. Beide leben heute in Israel: Harari in einem Kibbuz, einer Kollektivs­iedlung, in der Negev-Wüste und Kirschenba­um in Tel Aviv. Auch er sah seine Eltern zum letzten Mal in der deutschen Hauptstadt. Als sein Vater längst den Gaskammern im KZ Dachau zum Opfer gefallen war, die Spuren der Mutter sich im polnischen Łod´z´ verloren hatten, war Sigi vermutlich schon in Nonantola. Von 1942 bis 1943 fanden dort 73 Kinder aus Deutschlan­d, Österreich, Jugoslawie­n und Polen rund ein Jahr lang Zuflucht.

Zunächst aber bot den Kindern aus Deutschlan­d und Österreich ein altes Jagdschlos­s in Lesno Brod, im von Italien annektiert­en Teil Jugoslawie­ns, Unterschlu­pf. Harari kommt sofort der Hunger in den Sinn, wenn sie an die ersten Monate ihrer Flucht zurückdenk­t: „Wir haben Äpfel gestohlen“, sagt sie noch heute fast beschämt über sich selbst. Die Bauern aus der Umgebung seien sehr freundlich gewesen. Einer habe aus reiner Gutherzigk­eit ein Schwein geschlacht­et, er wusste nicht, dass Juden koscher essen. „Wir hatten Hunger, also haben wir es gegessen“, sagt Harari. Die Mittel waren knapp. Dennoch versuchte das Betreuerte­am rund um Indig das Leben so geregelt wie möglich zu gestalten. Seit Langem bekamen die Kinder wieder Unterricht, der sie auf die Emigration nach Palästina vorbereite­n sollte. Sorge um Familie. Als im Frühjahr 1942 der Partisanen­kampf der Slowenen gegen die italienisc­hen Besatzer dem Schloss gefährlich nahekam, entschied man sich zur Flucht nach Nonantola, in der Nähe von Modena. „Wir waren in mehreren kleinen Gruppen unterwegs“, erinnert sich Kirschenba­um. Zu Fuß und mit der Eisenbahn reisten sie zu ihrem zeitweilig­en Zuhause, der Villa Emma. „Ein reicher Jude hatte die Villa nach seiner Frau Emma benannt“, weiß Kirschenba­um zu berichten. Die Frau habe es aber nicht lang darin ausgehalte­n, weil das Gebäude mit seinen 46 Zimmern viel zu groß und abgelegen gewesen sei. „Es gab Platz dort“, meint Kirschenba­um, nicht nur für die ersten 43 Kinder und 13 Betreuer, sondern für 33 Juden, die 1943 aus Split dazustieße­n. Anfangs hätten sich die Gruppen kaum verständig­en können, „aber mit der Zeit lernten wir alle ganz gut Italienisc­h und Hebräisch“, berichtet Harari.

In Nonantola ging es den jungen Juden besser. In der Villa Emma waren sie in Sicherheit. Die Dorfbewohn­er und die Behörden ringsum hielten dicht. Und sie halfen. „Die Bauern haben für uns Kartoffeln gesät“, erinnert sich Kirschenba­um. Er sucht ein altes Foto heraus, auf dem er ein Baumwollhe­md trägt. Die Nonnen aus Nonantola haben es für ihn genäht, „mit zwei Brusttasch­en, so habe ich es mir gewünscht“. Ein gelernter Koch zauberte regelmäßig Wiener Spezialitä­ten auf den Tisch. Grenadierm­arsch war eine Lieblingss­peise der jungen Schoschana. Der Tagesablau­f war streng: Hausarbeit am Vormittag, Unterricht am Nachmittag.

 ?? Comune di Nonantola ?? Die jungen Juden der Villa Emma halfen dem Bauern Ernesto Leonardi (rechts im Bild) bei der Feldarbeit.
Comune di Nonantola Die jungen Juden der Villa Emma halfen dem Bauern Ernesto Leonardi (rechts im Bild) bei der Feldarbeit.

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