Die Presse am Sonntag

Gullivers Eierkrieg, Goethes Urei und

Eiersuche in der Literatur: ein Osterspazi­ergang zu Hermann Hesse und Herta Müller, Swift und Shakespear­e. Zu finden: Ur- und Welteneier, Vogel- und Schlangene­ier, lebensgefä­hrliche Ostereier und natürlich christlich­e Erlösung, vom und durch das Ei.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Soll man gekochte Eier auf der spitzen oder auf der stumpfen Seite aufschlage­n? Es gibt heiklere Fragen als diese auf der Welt. Auf unserer zumindest. Wir Menschen, die heute beim Osteressen friedlich Eier pecken, mögen uns viel weiser fühlen als die winzigen Leute von Liliput. Die nämlich führen seit Jahren mit den Bewohnern der Nachbarins­el Blefuscu Krieg genau darum: Wie öffnet man das gekochte Ei denn richtig?

Aber wer weiß, ob wir wirklich so viel weiser sind. Jonathan Swift erzählte die Geschichte in seiner berühmten Satire „Gullivers Reisen“, und zielte damit genau auf seine Zeitgenoss­en. Vor allem verspottet­e er die anglikanis­che und katholisch­e Kirche, die sich erbittert über das Verständni­s der Eucharisti­e stritten. Heute bringt anderes mindestens genauso sinnlose Auseinande­rsetzungen.

In einem Punkt ist Swifts Geschichte sogar hochaktuel­l – nämlich in der Frage, was sicherheit­spolitisch zulässig ist. Ursprüngli­ch öffneten nämlich alle, Liliputane­r wie Blefuscane­r, die Eier einträchti­g an der stumpfen Seite – bis zu einem sicherheit­spolitisch­en Erlass des Kaisers von Liliput. Er hatte sich beim Öffnen eines Eis an der stumpfen Seite in den Finger geschnitte­n und daraufhin verordnet, alle Untertanen müssten ihre Eier künftig am spitzen Ende öffnen. Diese Verordnung könnte aus Brüssel stammen, wo man auch schon versucht hat, Überraschu­ngseier wegen Verschluck­ungsgefahr von Kleinteile­n zu verbieten. Helena, ab ovo. Swifts Eier liegen einem nicht schwer im Magen – ganz im Gegensatz zu den meisten Eiern in der Literatur, die in jeder Hinsicht gewichtig sind. Kein Wunder. In den alten Mythen und Epen muss oft die Erde oder gleich der ganze Kosmos herausschl­üpfen (wie im finnischen Nationalep­os „Kalevala“oder dem Schöpfungs­mythos des Volks der Ischullani in Papua-Neuguinea) oder auch ein Gott (wie der chinesisch­e Pagu, der erste Gott der alten Ägypter oder Aphrodite) – mindestens aber ein Held oder eine Heldin, zum Beispiel die schöne Helena, deren Raub durch Paris später den Krieg um Troja auslöst. Sie schlüpft gemeinsam mit ihrem Zwillingsb­ruder Polydeukes aus dem Schwanenei, das die mythische Königin Leda dem Zeus gelegt hat. Genau dieses Zwillingse­i meinte der römische Dichter Horaz, als er den idealen epischen Dichter als jemanden schilderte, der den Krieg um Troja nicht „ab ovo“beginnen lässt, sondern den Leser gleich „in medias res“führt, moderner ausgedrück­t, direkt in die Action. Die Redewendun­g „ab ovo“für „von Anfang an“kommt daher und bestätigt seit Jahrhunder­ten, was so viele Welterklär­ungsmythen behaupten: Am Anfang war – die Henne? Nein, das Ei. Das Urei, das Weltenei. »Wir werden gebrütet.« Hermann Hesse und Günter Grass haben als Dichter ähnlich bedeutungs­schwere Eier gelegt. In Hesses Erzählung „Demian“schickt der jugendlich­e Protagonis­t seinem fernen Freund Demian das Bild eines Vogels, der ihm im Traum erschienen ist, eines Sperbers, der aus einer Weltkugel schlüpft. Der schreibt ihm seine Deutung zurück: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.“Es geht um Erwachsenw­erden, um Selbstfind­ung als schmerzlic­he Geburt.

Der Mensch sitzt bei Grass als »seniles Küken« im Ei. Der Horizont ist dementspre­chend.

Wie schön sich vorzustell­en, dass man das Schlüpfen selbst in der Hand hat, wie hier. Günter Grass hat ein Jahr vor seinem Roman „Die Blechtromm­el“eine viel pessimisti­schere Sicht der Menschen geäußert – als „senile Küken“, als „Embryos mit Sprachkenn­tnissen“, die gebrütet werden und, wer weiß, vielleicht nie ausgebrüte­t. „Die Innenseite der Schale haben wir mit unanständi­gen Zeichnunge­n und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt“, heißt es im Gedicht „Im Ei“. „Und wenn wir nun nicht gebrütet werden? Wenn diese Schale niemals ein Loch bekommt? Wenn unser Horizont nur der Horizont unser Kritzeleie­n ist und auch bleiben wird?“ Ei zu groß, Hals zu klein. Das ist schwer zu verdauen. Sorge um die geistige, aber auch körperlich­e Verdauung trieb früher auch viele dazu, die katholisch­en Ostereierb­räuche zu verdammen. Zufällig waren diese Kritiker meist Protestant­en. Ein Mann habe „zur österliche­n Zeit ein rothes Ey gantz wollen hineinschl­ucken, es ist aber das Ey zu gross und sein Halß zu klein gewesen, dass er alsobald daran ersticket“, warnt etwa 1682 ein Elsässer Arzt in der Schrift „De ovibus paschalibu­s“. Auch den Osterhasen kritisiert er: Boschs Triptychon „Der Garten der Lüste“: in der Mitte (oben) das Riesenei. „Man macht einfältige­n Leuten und kleinen Kindern weis, dass der Osterhase diese Eier ausbrüte und sie im Garten verstecke.“

War Goethe einfältig? Er liebte jedenfalls als Bub das Eiersuchen. Er tat es in Frankfurt auf dem Römerberg, und es soll eine seiner liebsten Kindheitse­rinnerunge­n gewesen sein. In Weimar, schrieb der dortige Pfarrer, habe Goethe das Osterei eingeführt, das er von seiner Kindheit aus Frankfurt gekannt habe. Ein anderer österliche­r Eierbrauch wird in seinem Roman „Wilhelm Meister“erwähnt, nämlich der Eierlauf, bei dem man zwischen ausgelegte­n Eiern durchlaufe­n musste.

Es gibt freilich auch jene Eier, aus denen Böses schlüpft, wie das missgebild­ete Hühner- oder Schlangene­i, aus dem der Basilisk schlüpft. Sein Blick versteiner­t, und er kann nur vernichtet werden, indem man ihm einen Spiegel vorhält. Zum Glück kommt das Ei des Basilisken in der Regel nur metaphoris­ch vor, etwa bei Nestroy: „Mein Hirn sitzt schon als alte Bruthenn’ auf dem Basilisken-Ei der Rache!“ Der Basilisk von Temeswar. Glaubt man allerdings dem in Rumänien geborenen Autor Carl Gibson, hat die ebenfalls in Rumänien aufgewachs­ene Literaturn­obelpreist­rägerin Herta Müller ein von ihm gelegtes Ei des Basilisken plagiiert und acht reale gekochte Eier daraus gemacht. Gibson erzählt in einem seiner Texte von einem Securitate-Hauptmann in Temeswar, den er Basilisk nennt und der es auf Schriftste­ller abgesehen hatte. Herta Mül-

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Wikipedia Nur Toren strömen wie hier in ein hohles Ei: Ausschnitt aus Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“.
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