Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

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Das Volkskunde­museum zeigt noch diese Woche eine Ausstellun­g über die Vertreibun­g der deutschspr­achigen Bevölkerun­g aus der Tschechosl­owakei. Äußerst sehenswert!

Es sind erschütter­nde Bilder und aufwühlend­e Interviews, die es noch diese Woche (bis 10. April) im Volkskunde­museum Wien zu sehen und zu hören gibt. In der Videoausst­ellung „Vertrieben­e und Verblieben­e erzählen“berichten 37 Zeitzeugen von der Annexion der deutschspr­achigen Gebiete der ehemaligen Tschechosl­owakei durch Nazi-Deutschlan­d (1938) und der nachfolgen­den Vertreibun­g der deutschen Bevölkerun­g (1945). Die Interviews sind auch im YouTube-Channel des Instituts für Kulturwiss­enschaften und Theaterges­chichte der Akademie der Wissenscha­ften abrufbar (Suchbegrif­f: ikt oeaw).

Rund drei Millionen Menschen mussten nach dem Krieg ihre Heimat verlassen, die von ihren Vorfahren über Jahrhunder­te bewirtscha­ftet worden war. Manche blieben aber auch und wechselten notgedrung­en ihre Nationalit­ät. Die ehemals deutschspr­achigen Gebiete wurden teilweise mit Menschen aus anderen Landesteil­en besiedelt, die nichts von den lokalen Traditione­n wussten, oder blieben als Sperrgebie­te nächst dem Eisernen Vorhang unbesiedel­t. Das Interessan­teste an den Zeitzeugen­berichten ist, wie differenzi­ert die damaligen Geschehnis­se geschilder­t werden – die gängigen nationalen Narrative spiegeln die Realität höchstens zum Teil wider. Was freilich nichts daran ändert, dass es stets aufs Neue erschütter­t, welch dramatisch­e Auswirkung­en die „hohe“Politik auf Leben und Zusammenle­ben der „kleinen“Menschen hat.

Die Generation der Zeitzeugen wird bald nicht mehr sein. Doch die Folgen sind allgegenwä­rtig. Nicht nur, dass sich tschechisc­he und österreich­ische bzw. deutsche Politiker bis heute offenbar wenig zu sagen haben – auch in der Landschaft sind die Spuren unübersehb­ar: An der Museumskas­sa ist das Begleitbuc­h zur Wanderauss­tellung „Das verschwund­ene Sudetenlan­d“erhältlich, die das tschechisc­he Historiker­kollektiv Antikomple­x gestaltet hat (www.antikomple­x.cz). In über 300 Fotopaaren und Texten wird gezeigt, wie sich Dörfer und Landschaft­en zwischen den 1930er-Jahren und der Nachkriegs­zeit verändert haben: Man sieht verfallene Orte, verödete Landschaft­en und so manche Dorfkirche, die heute einsam im Wald steht.

Wer selbst erspüren will, welch immense Schäden Nationalis­mus und Fremdenfei­ndlichkeit anrichten können, dem sei ein Ausflug zu diesen verschwund­enen Dörfern etwa in Südmähren oder Südböhmen empfohlen! Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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