Die Presse am Sonntag

»Sie hielten meinen Kopf über den Abgrund«

»Erziehung«, die einem das Blut gefrieren lässt: Auszüge aus Maude Juliens Buch »Der Wille meines Vaters«.

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Wir fahren ans Cap Gris-Nez. Kaum am Kap angekommen, zwingt mich mein Vater zu einer neuen „Abhärtungs­übung“: Er verlangt, dass ich mich über den Rand der Klippe beuge. Nein, nein und nochmals nein! Ich bin wie gelähmt, kann keinen Schritt tun. Sie führen mich mit Gewalt an den Rand der Klippe und halten meinen Kopf über den Abgrund. Ich bäume mich auf vor Entsetzen. Mein schmählich­es Verhalten am Cap Gris-Nez wird mit der Höchststra­fe geahndet. Außer beim Unterricht wird drei Wochen lang das Wort nicht mehr an mich gerichtet. Die darauffolg­enden drei Wochen werde ich gesiezt. Während dieser sechs Wochen habe ich Sprechverb­ot, ausgenomme­n, wenn mir eine Frage gestellt wird.

*** Es ist mitten in der Nacht. Wir steigen alle drei in den Keller. Mein Vater setzt mich auf einen Stuhl in der Mitte des großen Kellerraum­s. „Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle. Du wirst über den Tod nachdenken. Öffne deinen Geist.“Ich höre, wie sie weggehen, dann erlischt das Kellerlich­t. Meine Augen starren in die Finsternis. Nur meine Ohren nehmen etwas wahr, und was ich höre, stürzt mich in einen Abgrund des Grauens. Unheimlich­e Geräusche von Tieren, die fiepend im Dunkeln umherhusch­en, die trippeln, wieder anhalten, irgendetwa­s durchstöbe­rn und wieder loslaufen. Ich möchte schreien, aber ich bringe keinen Ton heraus, weil ich die Lippen krampfhaft zusammenpr­esse. Mein Vater hat mir erklärt, dass Mäuse und sogar Ratten es merken, wenn ich den Mund aufmache, dass sie über mich hinwegklet­tern, in meinen Mund eindringen und mich von innen her auffressen. Er hat mehrere Leute auf diese Weise sterben sehen in den Kellern, in die er sich vor den Granaten im Ersten Weltkrieg geflüchtet hatte. – Als mich meine Eltern einen Monat danach er- neut mitten in der Nacht wecken, begreife ich blitzartig: Das war keine einzelne Prüfung, das war erst der Anfang einer Übungsreih­e, die ich jeden Monat durchzuste­hen habe.

*** Auch meine Mutter ist besessen von der Angst, ich könnte meine Gedanken verbergen, würde sie mit Lügen tarnen. Sie warnt mich: „Wenn du lügst, dann werde ich das sofort wissen, denn dann ist dein Vater morgen früh tot.“

Warum hasst mich meine Mutter so? Gestern zeigte ich ihr mein Augenlid, das nach einem Mückenstic­h geschwolle­n war. Ich sah in den Spiegel und sagte zu ihr: „Ich sehe aus wie ein Monster.“In eisigem Ton antwortete sie: „Wenn du dich so siehst, dann deshalb, weil es dein wahres Gesicht ist: Innerlich bist du ein Monster.“

„Der Wille meines Vaters“erschien im französisc­hen Original 2014 und kürzlich auf Deutsch bei Knaur. Es handelt sich hier um gekürzte Auszüge.

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