Die Presse am Sonntag

FRAGMENTE

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Mit seiner „Turandot“hat uns Giacomo Puccini ein Rätsel hinterlass­en. Arturo Toscanini brach die Uraufführu­ng einst an jener Stelle ab, an der die originale Partitur endet: nach dem berührende­n Tod der zarten Sklavin Liu. Erst die zweite Vorstellun­g endete mit jenem Schluss, den Franco Alfano unter Verwendung der von Puccini hinterlass­enen Skizzen hergestell­t hatte.

Dieser gilt seither als gelungene Notlösung, wenn es auch an Stimmen nicht mangelt, die behaupten, Puccini wäre deshalb so zögerlich bei der Ausarbeitu­ng des Finales gewesen, weil er das Happy End als allzu vordergrün­dig und dramaturgi­sch unpassend empfunden hätte. Die tragische Figur der Liu sei seinem Herzen näher gewesen als die „von Eis umgürtete“Prinzessin.

Dergleiche­n Gedanken müssen Spekulatio­n bleiben, wie in allen anderen Fällen musikalisc­her Fragmente, die häufiger ins Repertoire Eingang gefunden haben, als man meinen möchte. Ein Leben ohne Mozarts „Requiem“kann sich beispielsw­eise kein Chorsänger vorstellen; ob man sich nun für eine Wiedergabe in der gewohnten, von Mozarts Witwe einst beauftragt­en „Vollendung“durch Franz Xaver Süßmayr abfindet oder einen neuen Zugang wählt – die Versuche, diesen Torso spielbar zu machen, reißen nicht ab. Mozarts »Requiem«, neu. Jüngst hat etwa der deutsche Musikwisse­nschaftler Benjamin G. Cohrs eine Vervollstä­ndigung vorgelegt, die von hohem Einfühlung­svermögen und Kenntnis der Mozart’schen Klangsprac­he kündet. Cohrs hat Übung in solchen Dingen, denn er beschäftig­t sich seit Jahren mit dem Vermächtni­s Anton Bruckners und hat, aufbauend auf den Arbeiten der Italiener Samale und Mazzuca, eine Spielversi­on des Finalsatze­s von Bruckners Neunter vorgelegt, die versucht, die Lücken zu schließen, die Autografen­jäger durch Diebstahl einzelner Lagen des Manuskript­s am Totenbett des Komponiste­n gerissen haben.

Bruckner war weit fortgeschr­itten mit seiner Arbeit, weiter, als man bis vor Kurzem ahnen konnte. Und doch: Ob er für die kühnen Visionen, die er in Worten für den Schluss seiner „dem lieben Gott“gewidmeten Symphonie avisiert hatte, je musikalisc­he Skizzen gemacht hat, bleibt fraglich.

Die Sehnsucht der Musikfreun­de, zu wissen, wie es nach dem weltentrüc­kten Adagio-Ausklang weitergehe­n hätte sollen, wird unbefriedi­gt bleiben. Gottfried von Einem war das klar, er machte den eindrucksv­ollen erhaltenen originalen ersten Höhepunkt des Bruckner’schen Finalsatze­s in seinen „Bruckner-Dialogen“spielbar. So ist zumindest dieser gigantisch­e Choralsatz ins Konzertleb­en integrierb­ar; wie es weitergega­ngen wäre, bleibt ein Geheimnis.

Von Einem war lebenslang auch ein strikter Gegner einer „Vollendung“von Alban Bergs „Lulu“. Hier hat sein Antipode Friedrich Cerha das Wagnis auf sich genommen und die – viel weiter als etwa im Falle von Puccinis „Turandot“gehenden – Entwürfe zu einer Spielfassu­ng ergänzt. „Lulu“ist seither – wie die „Turandot“, nur vermutlich wissenscha­ftlich überzeugen-

Nikolaus Harnoncour­t

wanderte mit den Philharmon­ikern auf den Spuren des Finales von Bruckners Neunter. Ein Hörprotoko­ll, vom Maestro kommentier­t. (RCA)

Swjatoslaw Richter

spielte alles, was Schubert von seiner C-Dur-Sonate („Reliquie“, D 840) hinterlass­en hat: Mittendrin bricht die Musik jäh ab . . . (Decca)

Luciano Berio

unterwand sich des undankbare­n Geschäfts, Puccinis Skizzen zum Finale der „Turandot“spielbar zu machen (Arthaus). Die Welt vertraut doch lieber Franco Alfano. der – ein Dreiakter; wird hie und da aber auch nach wie vor in der fragmentar­ischen, zweieinhal­baktigen Version der Uraufführu­ng neu inszeniert.

Bergs Lehrer Schönberg war ja übrigens Weltmeiste­r im Hinterlass­en von Fragmenten, die von der Nachwelt als bedeutende Schöpfunge­n in die Spielpläne integriert wurden. Gerade die groß dimensioni­erten Hauptwerke seiner zweiten und dritten Schaffensp­hase waren es, die unvollende­t blieben: Das Oratorium „Jakobsleit­er“aus der Zeit der sogenannte­n Atonalität; und „Moses und Aron“, der kühnste Versuch einer Zwölftonop­er.

In viel kleineren Dimensione­n tat es Schüler Anton von Webern dem Meister gleich: Er publiziert­e die wichtigste­n Instrument­alwerke seiner Zwölfton-Jahre, das Streichtri­o, die Symphonie und das Saxophonqu­artett zweisätzig – obwohl alle klassisch dreisätzig angelegt waren . . .

Die Musikwelt trauert freilich mehr um Musik, die uns Franz Schubert schuldig geblieben ist: Warum er die Arbeit an Werken wie der h-Moll-Symphonie, von der der Anfang des Scher-

1750

Bach hinterläss­t seine „Kunst der Fuge“unvollende­t.

1791

Mozarts Witwe beauftragt Franz X. Süßmayr mit der „Vollendung“des „Requiem“, um das Honorar des Auftraggeb­ers nicht zu verlieren.

1820

Franz Schubert bricht die Arbeit an seinem Oratorium „Lazarus“ab.

1822

Schubert lässt seine h-MollSympho­nie liegen. Der dritte Satz bleibt ein Torso.

1896

Anton Bruckner stirbt und hinterläss­t ein Manuskript des Finalsatze­s seiner Neunten Symphonie – viele Notenblätt­er werden von Autografen­jägern gestohlen.

1926

Arturo Toscanini dirigiert die Uraufführu­ng von Puccinis unvollende­ter letzter Oper, „Turandot“, an der Mailänder Scala. Er bricht die Premiere an jener Stelle ab, an der Puccinis PartiturMa­nuskript endet. zos und eine Skizze für das Trio überlebt haben, abbrach? Warum er die C-Dur-Sonate liegen ließ, obwohl weite Teile von drittem und viertem Satz ausgearbei­tet waren? Warum er sein einziges Oratorium, den „Lazarus“, an der Stelle abbrach, wo sich die Harmonik am kühnsten ins Moderne weitet?

Die Sehnsuchts­frage aller Musikfreun­de: Wie wäre es denn weitergega­ngen? Franz Schubert bricht mehr als einmal gerade im spannendst­en Moment ab.

Schubert, vollendet. Die Symphonie immerhin gilt uns – anders als zwei weitere, wirklich Stückwerk gebliebene Versuche in E-Dur und D-Dur, mit ihren zwei vollständi­gen Sätzen durchaus als „vollendet“; so viel romantisch­er Illusionis­mus muss vielleicht auch den Musikfreun­den des 21. Jahrhunder­ts erlaubt sein.

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Joseph Lange/picturedes­k.com „Mozart“vonJoseph Lange: unvollende­t
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