Die Presse am Sonntag

Wie Belgien am Konferenzt­isch gezeugt wurde

Vormals als Spanische bzw. Österreich­ische Niederland­e bekannt, wurde Belgien beim Wiener Kongress 1815 an die Niederland­e angegliede­rt – und erlangte 15 Jahre später die Unabhängig­keit. Doch die Einigkeit, mit der Flamen und Wallonen gegen die Bevormundu

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Als sich der Szenarist Rene´ Goscinny und der Zeichner Albert Uderzo im Jahr 1977 daran machten, ein neues Abenteuer von Asterix und Obelix zu konzipiere­n, hatten sie ihre berühmten Schöpfunge­n bereits durch die halbe Weltgeschi­chte der Antike geschickt – von Rom bis nach Germanien, von Ägypten bis nach England, von Griechenla­nd bis nach Spanien. Ein kleiner Flecken in unmittelba­rer Nachbarsch­aft des unbezwunge­nen gallischen Dorfes war bis dahin stets ausgelasse­n worden: Belgien. Dabei hatte Julius Cäsar selbst in seinen Kriegstage­büchern „De Bello Gallico“davon berichtet, dass unter den Stämmen Galliens die Belgier die tapfersten seien. Und so erwiesen die französisc­hen Comics-Helden mit mehrjährig­er Verspätung ihren Nachbarn im Norden die Ehre – und waren über ihren Kampfesmut derart erstaunt, dass Obelix während des gesamten Aufenthalt­es kein einziges Mal auf die Idee kam, die Belgier für verrückt zu erklären. Ils sont fous, ces belges? Im Gegenteil.

Die von Goscinny und Uderzo gepriesene Widerborst­igkeit war das Produkt jahrhunder­telanger Fremdherrs­chaft und zahlreiche­r kriegerisc­her Auseinande­rsetzungen. Der Startschus­s für die Staatswerd­ung Belgiens fiel im 16. Jahrhunder­t, als sich die niederländ­ischen Provinzen gegen die Oberhoheit der spanischen Habsburger auflehnten und 1648 die Unabhängig­keit erlangten – mit Ausnahme des heutigen Belgiens und Luxemburgs, die als Spanische bzw. Österreich­ische Niederland­e habsburgis­ch blieben. 1795 zog das revolution­äre Frankreich den Schlussstr­ich unter die Herrschaft der Habsburger, 20 Jahre später war auch die französisc­he Vorherrsch­aft über Belgien Geschichte – und die 1815 in Wien versammelt­en Kongresste­ilnehmer standen vor der Herausford­erung, die Region neu zu ordnen, ohne dabei einen zukünftige­n Kriegsgrun­d zu produziere­n. Die Lösung, auf die man sich schlussend­lich einigte, war die Vereini- gung mit den benachbart­en Niederländ­ern – und sie hatte vor allem aus der britischen Perspektiv­e den angenehmen Nebeneffek­t, dass das um die Österreich­ischen Niederland­e, das Fürstbistu­m Lüttich und Luxemburg aufgewerte­te Königreich Niederland­e als Puffer zwischen Frankreich und dem erstarkend­en Deutschlan­d fungierte. Im Windschatt­en Frankreich­s. Doch der Wiener Kongress hatte seine Rechnung ohne die Belgier gemacht. Denn im Gegensatz zu ihren neuen Landsleute­n im Norden waren sie – bzw. die belgischen Eliten – überwiegen­d katholisch und frankofon und nicht calvinisti­sch und flämischsp­rachig. Die Herrschaft König Wilhelms I. von Oranien-Nassau dauerte gerade einmal 15 Jahre. In dieser Zeit brachte der Monarch mit seiner undurchdac­hten Politik der sprachlich­kulturelle­n Gleichscha­ltung weite Teile der Bevölkerun­g gegen sich auf – und legte einen Grundstein für den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, der Belgien fortan prägen sollte.

Im Spätsommer 1830, im Windschatt­en der Julirevolu­tion in Frankreich, brachen in mehreren Städten Unruhen aus. Ursprüngli­ch war es den protestier­enden Bürgern lediglich um Zugeständn­isse hinsichtli­ch der Verwaltung gegangen, doch nachdem Wilhelm keine Anstalten machte, über Einführung der Pressefrei­heit und staatliche Neuorganis­ation zu verhandeln, flammte der Konflikt wieder auf. Aus den Gefechten mit der niederländ­ischen Armee gingen die irreguläre­n belgischen Truppen siegreich hervor – und Wilhelm blieb keine andere Wahl, als die Unabhängig­keit Belgiens zu akzeptiere­n, die bei einem internatio­nalen Kongress in London paraphiert

Die belgischen Eliten waren überwiegen­d katholisch und frankofon.

wurde. Ein Versuch, die abtrünnige­n Untertanen 1831 mit Waffengewa­lt zurückzuho­len, wurde mit tatkräftig­er Unterstütz­ung Frankreich­s vereitelt.

Der Neuankömml­ing auf dem diplomatis­chen Parkett Europas hatte keine schlechten Karten: Der Südteil des Landes befand sich mitten in der industriel­len Revolution, die liberale Verfassung kam dem aufstreben­den Bürgertum entgegen, und mit Leopold I. von Sachsen-Coburg und Gotha hatte man einen internatio­nal bestens vernetzten Monarchen an der Staatsspit­ze. Doch der Aufschwung des industrial­isierten Südens hatte eine Kehrseite: Während 1835 zwischen Brüssel und Mechelen eine der ersten Eisenbahns­trecken auf dem Kontinent ein-

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