Wie Belgien am Konferenztisch gezeugt wurde
Vormals als Spanische bzw. Österreichische Niederlande bekannt, wurde Belgien beim Wiener Kongress 1815 an die Niederlande angegliedert – und erlangte 15 Jahre später die Unabhängigkeit. Doch die Einigkeit, mit der Flamen und Wallonen gegen die Bevormundu
Als sich der Szenarist Rene´ Goscinny und der Zeichner Albert Uderzo im Jahr 1977 daran machten, ein neues Abenteuer von Asterix und Obelix zu konzipieren, hatten sie ihre berühmten Schöpfungen bereits durch die halbe Weltgeschichte der Antike geschickt – von Rom bis nach Germanien, von Ägypten bis nach England, von Griechenland bis nach Spanien. Ein kleiner Flecken in unmittelbarer Nachbarschaft des unbezwungenen gallischen Dorfes war bis dahin stets ausgelassen worden: Belgien. Dabei hatte Julius Cäsar selbst in seinen Kriegstagebüchern „De Bello Gallico“davon berichtet, dass unter den Stämmen Galliens die Belgier die tapfersten seien. Und so erwiesen die französischen Comics-Helden mit mehrjähriger Verspätung ihren Nachbarn im Norden die Ehre – und waren über ihren Kampfesmut derart erstaunt, dass Obelix während des gesamten Aufenthaltes kein einziges Mal auf die Idee kam, die Belgier für verrückt zu erklären. Ils sont fous, ces belges? Im Gegenteil.
Die von Goscinny und Uderzo gepriesene Widerborstigkeit war das Produkt jahrhundertelanger Fremdherrschaft und zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen. Der Startschuss für die Staatswerdung Belgiens fiel im 16. Jahrhundert, als sich die niederländischen Provinzen gegen die Oberhoheit der spanischen Habsburger auflehnten und 1648 die Unabhängigkeit erlangten – mit Ausnahme des heutigen Belgiens und Luxemburgs, die als Spanische bzw. Österreichische Niederlande habsburgisch blieben. 1795 zog das revolutionäre Frankreich den Schlussstrich unter die Herrschaft der Habsburger, 20 Jahre später war auch die französische Vorherrschaft über Belgien Geschichte – und die 1815 in Wien versammelten Kongressteilnehmer standen vor der Herausforderung, die Region neu zu ordnen, ohne dabei einen zukünftigen Kriegsgrund zu produzieren. Die Lösung, auf die man sich schlussendlich einigte, war die Vereini- gung mit den benachbarten Niederländern – und sie hatte vor allem aus der britischen Perspektive den angenehmen Nebeneffekt, dass das um die Österreichischen Niederlande, das Fürstbistum Lüttich und Luxemburg aufgewertete Königreich Niederlande als Puffer zwischen Frankreich und dem erstarkenden Deutschland fungierte. Im Windschatten Frankreichs. Doch der Wiener Kongress hatte seine Rechnung ohne die Belgier gemacht. Denn im Gegensatz zu ihren neuen Landsleuten im Norden waren sie – bzw. die belgischen Eliten – überwiegend katholisch und frankofon und nicht calvinistisch und flämischsprachig. Die Herrschaft König Wilhelms I. von Oranien-Nassau dauerte gerade einmal 15 Jahre. In dieser Zeit brachte der Monarch mit seiner undurchdachten Politik der sprachlichkulturellen Gleichschaltung weite Teile der Bevölkerung gegen sich auf – und legte einen Grundstein für den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, der Belgien fortan prägen sollte.
Im Spätsommer 1830, im Windschatten der Julirevolution in Frankreich, brachen in mehreren Städten Unruhen aus. Ursprünglich war es den protestierenden Bürgern lediglich um Zugeständnisse hinsichtlich der Verwaltung gegangen, doch nachdem Wilhelm keine Anstalten machte, über Einführung der Pressefreiheit und staatliche Neuorganisation zu verhandeln, flammte der Konflikt wieder auf. Aus den Gefechten mit der niederländischen Armee gingen die irregulären belgischen Truppen siegreich hervor – und Wilhelm blieb keine andere Wahl, als die Unabhängigkeit Belgiens zu akzeptieren, die bei einem internationalen Kongress in London paraphiert
Die belgischen Eliten waren überwiegend katholisch und frankofon.
wurde. Ein Versuch, die abtrünnigen Untertanen 1831 mit Waffengewalt zurückzuholen, wurde mit tatkräftiger Unterstützung Frankreichs vereitelt.
Der Neuankömmling auf dem diplomatischen Parkett Europas hatte keine schlechten Karten: Der Südteil des Landes befand sich mitten in der industriellen Revolution, die liberale Verfassung kam dem aufstrebenden Bürgertum entgegen, und mit Leopold I. von Sachsen-Coburg und Gotha hatte man einen international bestens vernetzten Monarchen an der Staatsspitze. Doch der Aufschwung des industrialisierten Südens hatte eine Kehrseite: Während 1835 zwischen Brüssel und Mechelen eine der ersten Eisenbahnstrecken auf dem Kontinent ein-