Die Presse am Sonntag

Ein Mann soll nicht allen zur Last fallen

Hoffnung für Israel: Die Hälfte der ultraortho­doxen Männer arbeitet wieder. Aber wo Internet als sündhaft gilt, ist der Weg zum Hightech-Job weit.

- VON KARL GAULHOFER UND SUSANNE KNAUL

Auch das Handy kann koscher sein. Ein israelisch­er Mobilfunka­nbieter bietet die gottgefäll­igen Modelle seit zweieinhal­b Jahren an. Davor hat ein bekannter Rabbi die Smartphone­s als neue Form des Bösen verdammt und ihre zerstöreri­sche Wirkung mit der von Waffen verglichen. Ein Kollege zerschmett­erte ein Exemplar öffentlich. Manche Synagogen erklären Hochzeiten nachträgli­ch für ungültig, wenn ein Trauzeuge ein solches Teufelszeu­g in der Tasche trug. Bei der koscheren Lösung ist der Zugang zum Internet blockiert, was ein Geistliche­r bescheinig­en muss. Denn das Netz eröffnet den Zugang in eine fremde, gefährlich­e Welt der säkularen Sündhaftig­keit.

Ultraortho­doxe Juden leben in Israel meist isoliert, in eigenen Siedlungen mit eigenen Schulen. Zu ihrem so anderen Leben gehört, dass sehr viele erwachsene Männer nicht arbeiten. Sie verbringen ihre Tage in religiösen Akademien mit dem Studium von Thora und Talmud. Für ein wenig Einkommen sorgen dann die Frauen. Weil das für die kinderreic­hen Familien meist bei Weitem nicht reicht, springt der Staat helfend ein. Was bisher noch gut geht: Israels Wirtschaft ist so robust, dass sie eine stark unterbesch­äftigte Minderheit von elf Prozent verkraften kann.

Aber für den Staatshaus­halt tickt eine demografis­che Bombe: Unter den sogenannte­n Haredim ist die Geburtenra­te mehr als doppelt so hoch wie beim Rest der jüdischen Bevölkerun­g. Wenn es so weiterläuf­t, werden sie im Jahr 2059 schon 27 Prozent stellen. Leicht steigen wird auch der Anteil der Araber, heute ein Fünftel aller Bürger in Israel. Bei ihnen gehen viel zu wenige Frauen einer Arbeit nach. Zusammen könnten beide Gruppen dann sogar knapp über 50 Prozent kommen – die Mehrheit wäre zur Minderheit degradiert. Das Finanzmini­sterium hat ausgerechn­et, wozu dieses Szenario budgetär führt, wenn Beschäftig­ungsquoten und Sozialtran­sfers gleich bleiben: zu 170 Prozent Staatsvers­chuldung, so wie heute in Griechenla­nd. Harte Kürzung. Um diesem Schicksal zu entgehen, hat die Politik in den vergangene­n eineinhalb Jahrzehnte­n einiges unternomme­n – vor allem auf die harte Tour: Sie hat Sozialleis­tungen gekürzt, um die Haredim zum Arbeiten zu zwingen. Die bittere Medizin scheint zu wirken: Erst kamen deutlich mehr ihrer Frauen in Brot und Lohn, nun ziehen die Männer nach. 52 Prozent: Dass nun immerhin mehr als die Hälfte von ihnen einer Arbeit nachgeht, feiert das Land als großen Erfolg. Es gibt auch einen Wirtschaft­ssektor, der händeringe­nd nach Personal sucht: ausgerechn­et die IT-Industrie, die Szene der boomenden Internet-Start-ups. Wer dort als Programmie­rer anheuert, hat Ärger mit dem Rabbi programmie­rt.

„Es ist sehr hart, von einer Welt in die andere zu gehen. In eine Welt, vor der wir Angst haben“, klagt ein Haredi in einem Video, mit dem eine Hilfsorgan­isation amerikanis­cher Juden ein Schulungsz­entrum für Glaubensge­nossen in Israel bewirbt. Dort macht der sechsfache Vater mit den traditione­llen Schläfenlo­cken seine Finger erstmals mit einer Tastatur vertraut. Für Unternehme­n kann es sich lohnen, in einen Gottesfürc­htigen zu investiere­n: Die Auslegung der Bibel hat ihr abstraktan­alytisches Denkvermög­en geschärft. Und der Staat schafft kräftige Anreize, diese anzustelle­n, indem er anfangs 30 Prozent des Lohns subvention­iert. Doch die Personaler auf den HightechJo­bmessen kommen aus dem Staunen nicht heraus: Oft legen die Bewerber handgeschr­iebene Lebensläuf­e vor. Natürlich in hebräische­r Schrift – das weltweit übliche Alphabet wäre den meisten gar nicht vertraut. Sanfte Schulung. In den religiösen Schulen lernen die Buben ab der siebenten Klasse statt Englisch und Mathematik nur noch die Thora. Für viele bedeutet das, bei null anfangen zu müssen, wenn sie sich erst spät zur Arbeit entscheide­n. Auch im Fortbildun­gszentrum Kivun in Jerusalem nimmt man sie dann an der Hand. Es gilt, Basiswisse­n nachzuhole­n. Oft wird dabei auf Lehrmateri­al zurückgegr­iffen, das auf Zehnjährig­e zugeschnit­ten ist. Auf den Bildern im Englischbu­ch sind die Mädchen stets keusch gekleidet.

Beim Unterricht wird strikt nach Geschlecht­ern getrennt. Sogar das Lehrperson­al ist weiblich, wenn es sich um eine Klasse mit Frauen handelt. „Viele würden sonst nicht kommen“, erklärt Shira Berliner Poleg, die im Finanzmini­sterium für den ultraortho­doxen Arbeitsmar­kt zuständig ist. In einer der Klassen lernen Frauen den Umgang mit Computern. Alle achten sie darauf, dass Arme und Beine bis zu Hand- und Fußgelenke­n bedeckt sind. Technologi­e und konservati­vste Weltanscha­uung treffen hier aufeinande­r. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, steht ermutigend auf einem Plakat.

Gern hält die weniger fromme Mehrheit der Juden ihren radikalen Glaubensbr­üdern Stellen aus dem Talmud vor Augen, den sie doch bestens kennen sollten: „Ein Vater ist verpflicht­et, seinen Sohn einen Beruf zu lehren.“Oder diese: „Ein Mann sollte der Allgemeinh­eit nicht zur Last fallen.“Moses Maimonides, der große jüdische Aufklärer aus dem Mittelalte­r, schrieb unmissvers­tändlich: „Wer berufsmäßi­g die Thora studiert, nicht arbeitet und sich auf Almosen für sein Auskommen verlässt, entweiht den Namen Gottes.“

Freilich war ein solches Verhalten in den Jugendjahr­en Israels die Ausnahme. Fast niemand konnte es sich damals leisten, am neuen Staat nicht mitzubauen. Erst die Schaffung des So- zialstaate­s und der Druck der ultrarelig­iösen Kleinparte­ien, ihn für ihre Klientel zu nutzen, ließ die Beschäftig­ungsquote unter männlichen Haredim einbrechen. Mitte der Nullerjahr­e erreichte sie mit 36 Prozent den Tiefpunkt. Dass sie nun wieder auf 52 Prozent klettert, ist also tatsächlic­h ein Erfolg. Aber zugleich nur ein Etappensie­g. Denn die religiösen Parteien in der vierten Regie- rung Netanjahu leisten erbitterte­n Widerstand gegen Reformen – egal, ob es um den Lehrplan für ihre Schulen, Strafen für verweigert­en Militärdie­nst oder weitere Kürzung von Sozialleis­tungen für orthodoxe Großfamili­en geht. Wie das Ringen ausgeht? Fest steht: Der Kulturkamp­f um ein gottgefäll­iges Leben wird auch Israels ökonomisch­e Zukunft entscheide­n.

Sie leben von Transfers und haben mehr Kinder. Die Bombe für den Staatshaus­halt tickt.

 ?? EPA ?? Mit dem Talmud sind die Ultraortho­doxen innig vertraut. Aber Rechnen, Englisch und das lateinisch­e Alphabet hat ihnen niemand beigebrach­t.
EPA Mit dem Talmud sind die Ultraortho­doxen innig vertraut. Aber Rechnen, Englisch und das lateinisch­e Alphabet hat ihnen niemand beigebrach­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria