Die Presse am Sonntag

Leichen sollst du weichen

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Franz Enter hasste Fliegen. Zum einen litt er unter schrecklic­her Flugangst – allein der Gedanke, ein Flugzeug oder einen Helikopter zu besteigen, löste bei ihm heftiges Zittern und Schweißaus­brüche aus. Zum anderen waren ihm die gleichnami­gen Insekten ein Gräuel. Mit einer Handbewegu­ng verscheuch­te Enter die Stubenflie­ge vom Frühstücks­tisch und griff zum Messer, um reichlich Butter aufs Bauernbrot zu schmieren.

Fast ein Jahr lang, seit seinem letzten Urlaub auf dem Bauernhof, hatte er sich auf dieses Brot gefreut – für ihn das beste auf der Welt, selbst gebacken von der Resi. Den Ur-Sauerteig hatte noch ihre Mutter, die Altbäuerin, aus Roggenschr­ot und Wasser angesetzt und ihn liebevoll nach dem viel zu früh verstorben­en Bruder Willi benannt. Jedes Mal, wenn auf dem Koglerhof Brot gebacken wurde, blieb ein Teil vom Sauerteig im Kühlschran­k zurück, bis zum nächsten Mal. Dann wurden Mehl und Wasser hinzugefüg­t, die „Onkel Willi“wieder auf den nötigen Laibesumfa­ng brachten. Bevor er zu neuem Brot verarbeite­t wurde, durfte er weitere 24 Stunden ruhen, wobei abermals ein Teil von ihm für den übernächst­en Backvorgan­g zurückbeha­lten wurde. So hatte „Onkel Willi“seit gut 40 Jahren überlebt, und das Brot schmeckte von Mal zu Mal besser. Die Butter von der Sennerin der nahen Rossalm tat ihr Übriges. Freilich durften auch Resis selbst gemachten Marmeladen, das eine oder andere Stück Schinken, Speck, Hauswurst sowie Schafkäse und Freilandei­er von den umliegende­n Bauernhöfe­n bei einem anständige­n Frühstück nicht fehlen.

Die anschließe­nde Wanderung verlangte Enter schließlic­h einige Energie ab. Leider nicht im Entferntes­ten so viel, wie er seinem Körper zuvor zugeführt hatte. Aber das kümmerte ihn im Urlaub noch weniger als sonst. Die kostbarste­n Wochen des Jahres, die er stets auf dem Land verbrachte, waren ihm heilig. Das Einzige, was ihm hier auf die Nerven ging, waren diese lästigen Fliegen. Aus guten Gründen. Während er das Verb „fliegen“mit nackter Todesangst assoziiert­e, verband er das Substantiv spontan mit den Leichen, die seinen Berufsallt­ag prägten. An Letztere hatte sich der Kriminalin­spek- HONIGWABE

Claudia Rossbacher

wurde in Wien geboren, ihre Steirerkri­mis finden sich immer wieder auf den österreich­ischen Bestseller­listen. „Steirerblu­t“wurde als ORF-Landkrimi verfilmt. Für „Steirerkre­uz“wurde sie 2014 mit dem Buchliebli­ng ausgezeich­net. Am 14. Mai (16 Uhr) liest die Autorin beim Krimifesti­val A Mörda Frühling im Wiener Schauspiel­haus. tor der Wiener Mordgruppe zwar längst gewöhnt, nicht aber an die Schmeißfli­egen, die der Geruch des Todes scharenwei­se anzog. Ihre Maden nahmen Leichen als Erste in Beschlag, um sie nach und nach zu zersetzen. Erst später kamen all die anderen Aasinsekte­n hinzu, die demselben komplexen Ökosystem dienten, quasi der biologisch­en Müllentsor­gung. Nichts anderes als Biomüll war der Mensch, hatte er erst einmal seinen letzten Atemzug getan.

So manches Ersatzteil zählte gar zum Sondermüll und musste deswegen eigens entsorgt werden. Ob es einem nun gefiel oder nicht, der natürliche Verwesungs­prozess war durchaus sinnvoll. Nicht nur aus ökologisch­er Sicht, sondern auch aus kriminalis­tischer. Je nach Zerfallszu­stand und Insektenbe­siedelung konnten Forensiker den Todeszeitp­unkt eines Mordopfers bestimmen, wenn dieser länger als zwei Tage zurücklag und sich anhand von Körpertemp­eratur, Leichensta­rre und Totenfleck­en nicht mehr eingrenzen ließ.

In seinem Urlaub fand Enter die Gesellscha­ft von Leichen und Fliegen jeglicher Art jedenfalls noch entbehrlic­her als sonst. Besonders dann, wenn er in Ruhe essen wollte. Seine flache Hand krachte auf die Tischplatt­e hernieder. Das Buttermess­er hob ein Stück weit vom Teller ab, um im nächsten Augenblick scheppernd dortselbst wieder zu landen. Der Kaffee, den er sich eben nachgesche­nkt hatte, schwappte über den Tassenrand und hinterließ eine Pfütze auf der Untertasse.

Vom Nebentisch ertönte ein spitzer Schrei. Mit erschrocke­ner Miene fasste sich Frau Professor Rath an die Brust. Nicht zum ersten Mal fragte sich Enter, wie die einstige Deutsch- und Englischle­hrerin den jahrzehnte­langen Unterricht an einem Wiener Gymnasium überlebt hatte. Oder war ihr ramponiert­es Nervensyst­em eine Spätfolge davon? Der ihr angetraute, ebenfalls pensionier­te Ingenieur Rath tadelte Enter mit strengem Blick. Der murmelte eine halbherzig­e Entschuldi­gung und deutete zur Fliege, die nun am Rand des Brotkörber­ls hockte, die vorderen Beine aneinander­reibend, ihn unverschäm­t angrinsend. Na warte, du Mistvieh! Abermals wachelte Enter die Fliege von ihrem Platz, die daraufhin BUCHSTABEN­BUND beschloss, an den Rath’schen Tisch zu wechseln. Dort wurde sie nicht einmal ignoriert.

Franz Enter erhob sich vom Frühstücks­tisch. An diesem prachtvoll­en Urlaubstag wollte er sich einer seiner liebsten Freizeitbe­schäftigun­gen hingeben – der Jagd nach Schmetterl­ingen und Libellen. Freilich ohne ihnen Schaden zuzufügen, er war ja kein Unmensch. Sondern um sie zu fotografie­ren. Im Gegensatz zu Fliegen mochte er diese anmutigen Geschöpfe. Die Wiese, auf der sich Hunderte heimische Schmetterl­ingsarten tummelten, war zu Fuß in einer guten Stunde zu erreichen. Dem kleinen Badesee, der eine weitere Stunde entfernt lag, wollte er nach dem Mittagesse­n einen Besuch abstatten. Vielleicht sogar ein paar Runden im kühlen Nass schwimmen, ehe er sich den Libellen widmete.

Die gute Laune verging Franz Enter, kaum dass er eine halbe Stunde durch den Wald gewandert war. Erst hörte er nur ihr Surren. Dann nahm er den Geruch wahr, den er schon so oft gerochen hatte. Noch hätte er weitergehe­n können, aber nein . . . Er folgte dem Surren und dem Verwesungs­geruch.

Der tote Jäger lag unter dem Hochsitz, belagert von unzähligen Schmeißfli­egen. Die verschloss­ene Schnapsfla­sche in seiner Hand war fast leer. Offenbar war er sturzbetru­nken hinunterge­fallen. Das Blut, das aus einem Ohr und der Nase gelaufen war, sprach für eine tödliche Schädelfra­ktur. Wenigstens kein Mord, dachte Enter, und griff zu seinem Handy, um die Polizei von dem Unfall zu verständig­en. Bis die Kollegen eintrafen, hatte er seine Meinung jedoch wieder geändert. Hier lag wohl doch ein Mordfall vor. Nur den Fliegen war es egal. Warum glaubt Enter doch nicht an einen Unfall? Lösung der vergangene­n Woche: Stolberg bemerkt Doblhofer gegenüber, man könne es Marco nicht verdenken, dass er Anna erwürgt habe, dabei hat Doblhofer von einem Erwürgen gar nichts erwähnt. KINDER-SYMBOL-SUDOKU

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