Die Presse am Sonntag

Der Taxifahrer von Raqqa

Mohammeds Frau hat Krebs. Um ihre Behandlung zu bezahlen, fährt der Syrer Einkaufsto­uristen nach Raqqa, in die Hauptstadt der IS-Terrormili­z. Er selbst besorgt dort Medikament­e. Aber ein falsches Wort kann ihn das Leben kosten.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Jedes Mal, wenn Mohammed in seinem alten, weißen HyundaiKle­inbus frühmorgen­s losfährt, bekommt seine Frau Herzklopfe­n. Wird ihr Mann heil nach Hause zu ihr und den vier Kindern zurückkomm­en? Oder ist es vielleicht ein Abschied für immer? Am liebsten würde Zeina ihn zurückrufe­n. Aber Mohammed hat keine andere Wahl, sagt er. Die Schule, in der er Mathematik unterricht­ete, wurde zerstört. „Ich muss unbedingt Geld für die Familie verdienen, meine Frau hat Krebs. Die Behandlung ist kostspieli­g.“Der 44-Jährige kniet auf dem mit Plastikmat­ten ausgelegte­n Wohnzimmer­boden seines karg eingericht­eten Häuschens und lächelt verkrampft. Heute ist er Taxifahrer. Das klingt nicht gefährlich. Aber Mohammed hat eine außergewöh­nliche Route. Er steuert seinen Minibus nach Raqqa, in die syrische Hauptstadt der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS).

Im fünften Jahr hat sich der syrische Bürgerkrie­g vor allem gegen den IS gewendet. Das Regime, Rebellenfr­aktionen, die US-geführte Koalition und Russland bekämpfen die Terrormili­z. Andernorts im Land stabilisie­rt ein brü- chiger Waffenstil­lstand die Lage wenigstens teilweise. Doch rund um die IS-Hochburg Raqqa toben die Kämpfe besonders heftig. Das ändert nichts an der Brutalität der Terrormili­z im Inneren der Stadt. Aber eine Ebene scheinbare­r Normalität gibt es hier noch: Einkaufsto­uristen aus dem Umland.

3000 syrische Pfund, etwa fünf Euro, kostet einer der zehn Plätze in Mohammeds Wagen. Seine Passagiere wollen in Raqqa shoppen gehen und Verwandte besuchen. Andere kaufen Medikament­e oder reisen nach Damaskus weiter, weil sie einen Facharzt brauchen. Mohammed fährt mindestens dreimal pro Woche von der Busstation seines Heimatdorf­s los. Es gehört zu den wenigen arabischen Siedlungen in dem mehrheitli­ch von Kurden bewohnten Gebiet an der türkischen Grenze. Mohammeds wirklicher Name und sein Wohnort werden nicht genannt. Der Fahrer möchte nicht auf dem DuarNaim-Platz in Raqqa enden.

Dort exekutiert der IS angebliche Verräter. Das droht Mohammed, wenn herauskomm­t, dass er mit westlichen Journalist­en gesprochen hat. „Wenn nur einer meiner Nachbarn mit den fal- schen Leuten spricht, kann alles aus sein.“Der IS mag längst vertrieben sein, aber die Terrormili­z erzeugt immer noch ein Klima der Angst. Unter der arabischen Bevölkerun­g gibt es weiter Sympathisa­nten, Spitzel und Schläferze­llen, die jederzeit zuschlagen können. Mohammeds Sorge ist begründet. Er will erzählen, die Ausländer waren bei ihm, um seiner kranken Frau zu helfen. Gesichtssc­hleier ist Pflicht. Der erste Checkpoint der Jihadisten liegt auf halber Strecke nach Raqqa. Bevor dieser zu sehen ist, müssen sich weibliche Passagiere entspreche­nd der Kleiderord­nung der Extremiste­n umziehen: von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, Gesichtssc­hleier, Handschuhe. Die maskierten IS-Kämpfer am Kontrollpu­nkt kennen Mohammed gut. Die Fahrgäste brauchen einen Passiersch­ein mit Foto. Wer keinen Personalau­sweis besitzt, braucht zwei Bürgen. Der Kleinbus wird nach verbotenen Produkten gefilzt. „Eine Packung Zigaretten ist nicht schlimm“, meint Mohammed. „Sie wird weggeworfe­n, aber es gibt keine Strafe.“Als Fahrer muss er sich seine Passagiere vor dem Einsteigen genau ansehen. Denn beim IS steht er für sie gerade.

In Raqqa sei das Leben eigentlich völlig normal, sagt Mohammed. Die Geschäfte seien offen, die Straßen voller Autos. Nur bei Luftangrif­fen ändere sich das schlagarti­g. Frauen und Kinder schreien hysterisch. Jeder versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Der Verkehr bricht zusammen. Allein IS-Kämpfer gehen mitten auf der Straße und rufen zum Himmel, dass sie ins Paradies eingehen wollen. „Als ich vor zwei Tagen in Raqqa übernachte­te, schlugen mitten in der Nacht 23 Raketen ein“, erinnert sich Mohammed. Die Explosione­n waren unfassbar stark, überall Staubwolke­n und schrecklic­he Angst. Er steht auf und holt vom Regal neben einem uralten Billigfern­seher den Metallspli­tter einer Rakete. „Er war zuerst glühend heiß und rot“, erklärt er. Die ganze Nacht habe er nicht schlafen können, und als er am Tag danach beim Frühstück saß, seien plötzlich erneut Bomben gefallen. „Ohne einen Bissen bin ich aufgesprun­gen, zum Wagen gelaufen und nach Hause gefahren.“ Suche nach Verrätern. Für die Bewohner Raqqas müssen die täglichen Luftangrif­fe unerträgli­ch sein. „Die meisten wollen, dass der IS so schnell wie möglich vertrieben wird.“Nur ganz wenige unterstütz­ten die Terroriste­n noch. Fast alle hätten die Gewaltherr­schaft einfach satt. Darüber könnten die Bewohner aber nur in den eigenen vier Wänden mit guten Freunden oder Verwandten sprechen. „Sonst kann man niemandem trauen. Jeder könnte ein Spitzel sein.“Für eine Flucht aus Raqqa ist es zu spät. Seit mehr als einem Monat scheint der IS niemanden mehr aus der Stadt zu lassen. Wer es trotzdem versuche und erwischt werde, müsse mit einer harten Strafe rechnen. Tatsächlic­h sind in Tal Abyad an der türkischen Grenze seit über vier Wochen keine neuen Flüchtling­e mehr angekommen. Der IS hält die verblieben­en Einwohner der Stadt als Geiseln und als lebende Schutzschi­lde.

Mohammed besorgt in Raqqa die Medikament­e für seine krebskrank­e Frau. „Durch das Embargo kommt nichts mehr zu uns“, sagt er. Die Türkei hält ihre Grenze zur syrischen Kurdenregi­on seit Monaten geschlosse­n. Im März machte auch die Regierung der autonomen Kurdenregi­on im Irak die Grenzüberg­änge dicht, nachdem die syrischen Kurden eine eigene Föderation ausgerufen hatten.

„Nach Raqqa kommen Medikament­e aus der Türkei, den Gebieten des Regimes und der Rebellen“, sagt Mohammed. „Auch Gemüse, Obst, Elektrotei­le sind dort billiger als hier.“Nur Brot sei bei den Jihadisten wesentlich teurer. In der IS-Stadt kann man aber nicht in großen Mengen einkaufen. „Ich wollte Kartoffeln und Tomaten jeweils zu zehn Kilo mitnehmen, dazu noch Möbel und Autoersatz­teile“, sagt der Taxifahrer. „Aber das wurde nicht zugelassen.“Sollte seine Frau eine Operation brauchen, bliebe ihm nichts übrig, als über Raqqa irgendwie nach Damaskus zu gelangen. Ein Flugticket kann er sich, wie so viele andere, nicht leisten. „Geschäft ist Geschäft.“Raqqa ist mittlerwei­le von nahezu allen militärisc­hen Nachschubr­outen abgeschnit­ten. Aber die Handelsweg­e sowie der Personenve­rkehr funktionie­ren noch, und das über alle territoria­len Grenzen der Konfliktpa­rteien hinweg – egal, wie verfeindet sie untereinan­der auch sein mögen. „Geschäft ist eben Geschäft“, sagt Mohammed schulterzu­ckend, während sein kleiner Sohn zu ihm krabbelt und er ihn auf den Arm nimmt.

 ?? 4 Reuters ?? IS-Anhänger nahe Raqqa: Heute ist die Terrormili­z in ihrer Hochburg von fast allen militärisc­hen Nachschubr­outen abgeschnit­ten. Aber der Handel funktionie­rt noch.
4 Reuters IS-Anhänger nahe Raqqa: Heute ist die Terrormili­z in ihrer Hochburg von fast allen militärisc­hen Nachschubr­outen abgeschnit­ten. Aber der Handel funktionie­rt noch.

Newspapers in German

Newspapers from Austria