Der Taxifahrer von Raqqa
Mohammeds Frau hat Krebs. Um ihre Behandlung zu bezahlen, fährt der Syrer Einkaufstouristen nach Raqqa, in die Hauptstadt der IS-Terrormiliz. Er selbst besorgt dort Medikamente. Aber ein falsches Wort kann ihn das Leben kosten.
Jedes Mal, wenn Mohammed in seinem alten, weißen HyundaiKleinbus frühmorgens losfährt, bekommt seine Frau Herzklopfen. Wird ihr Mann heil nach Hause zu ihr und den vier Kindern zurückkommen? Oder ist es vielleicht ein Abschied für immer? Am liebsten würde Zeina ihn zurückrufen. Aber Mohammed hat keine andere Wahl, sagt er. Die Schule, in der er Mathematik unterrichtete, wurde zerstört. „Ich muss unbedingt Geld für die Familie verdienen, meine Frau hat Krebs. Die Behandlung ist kostspielig.“Der 44-Jährige kniet auf dem mit Plastikmatten ausgelegten Wohnzimmerboden seines karg eingerichteten Häuschens und lächelt verkrampft. Heute ist er Taxifahrer. Das klingt nicht gefährlich. Aber Mohammed hat eine außergewöhnliche Route. Er steuert seinen Minibus nach Raqqa, in die syrische Hauptstadt der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Im fünften Jahr hat sich der syrische Bürgerkrieg vor allem gegen den IS gewendet. Das Regime, Rebellenfraktionen, die US-geführte Koalition und Russland bekämpfen die Terrormiliz. Andernorts im Land stabilisiert ein brü- chiger Waffenstillstand die Lage wenigstens teilweise. Doch rund um die IS-Hochburg Raqqa toben die Kämpfe besonders heftig. Das ändert nichts an der Brutalität der Terrormiliz im Inneren der Stadt. Aber eine Ebene scheinbarer Normalität gibt es hier noch: Einkaufstouristen aus dem Umland.
3000 syrische Pfund, etwa fünf Euro, kostet einer der zehn Plätze in Mohammeds Wagen. Seine Passagiere wollen in Raqqa shoppen gehen und Verwandte besuchen. Andere kaufen Medikamente oder reisen nach Damaskus weiter, weil sie einen Facharzt brauchen. Mohammed fährt mindestens dreimal pro Woche von der Busstation seines Heimatdorfs los. Es gehört zu den wenigen arabischen Siedlungen in dem mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiet an der türkischen Grenze. Mohammeds wirklicher Name und sein Wohnort werden nicht genannt. Der Fahrer möchte nicht auf dem DuarNaim-Platz in Raqqa enden.
Dort exekutiert der IS angebliche Verräter. Das droht Mohammed, wenn herauskommt, dass er mit westlichen Journalisten gesprochen hat. „Wenn nur einer meiner Nachbarn mit den fal- schen Leuten spricht, kann alles aus sein.“Der IS mag längst vertrieben sein, aber die Terrormiliz erzeugt immer noch ein Klima der Angst. Unter der arabischen Bevölkerung gibt es weiter Sympathisanten, Spitzel und Schläferzellen, die jederzeit zuschlagen können. Mohammeds Sorge ist begründet. Er will erzählen, die Ausländer waren bei ihm, um seiner kranken Frau zu helfen. Gesichtsschleier ist Pflicht. Der erste Checkpoint der Jihadisten liegt auf halber Strecke nach Raqqa. Bevor dieser zu sehen ist, müssen sich weibliche Passagiere entsprechend der Kleiderordnung der Extremisten umziehen: von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, Gesichtsschleier, Handschuhe. Die maskierten IS-Kämpfer am Kontrollpunkt kennen Mohammed gut. Die Fahrgäste brauchen einen Passierschein mit Foto. Wer keinen Personalausweis besitzt, braucht zwei Bürgen. Der Kleinbus wird nach verbotenen Produkten gefilzt. „Eine Packung Zigaretten ist nicht schlimm“, meint Mohammed. „Sie wird weggeworfen, aber es gibt keine Strafe.“Als Fahrer muss er sich seine Passagiere vor dem Einsteigen genau ansehen. Denn beim IS steht er für sie gerade.
In Raqqa sei das Leben eigentlich völlig normal, sagt Mohammed. Die Geschäfte seien offen, die Straßen voller Autos. Nur bei Luftangriffen ändere sich das schlagartig. Frauen und Kinder schreien hysterisch. Jeder versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Der Verkehr bricht zusammen. Allein IS-Kämpfer gehen mitten auf der Straße und rufen zum Himmel, dass sie ins Paradies eingehen wollen. „Als ich vor zwei Tagen in Raqqa übernachtete, schlugen mitten in der Nacht 23 Raketen ein“, erinnert sich Mohammed. Die Explosionen waren unfassbar stark, überall Staubwolken und schreckliche Angst. Er steht auf und holt vom Regal neben einem uralten Billigfernseher den Metallsplitter einer Rakete. „Er war zuerst glühend heiß und rot“, erklärt er. Die ganze Nacht habe er nicht schlafen können, und als er am Tag danach beim Frühstück saß, seien plötzlich erneut Bomben gefallen. „Ohne einen Bissen bin ich aufgesprungen, zum Wagen gelaufen und nach Hause gefahren.“ Suche nach Verrätern. Für die Bewohner Raqqas müssen die täglichen Luftangriffe unerträglich sein. „Die meisten wollen, dass der IS so schnell wie möglich vertrieben wird.“Nur ganz wenige unterstützten die Terroristen noch. Fast alle hätten die Gewaltherrschaft einfach satt. Darüber könnten die Bewohner aber nur in den eigenen vier Wänden mit guten Freunden oder Verwandten sprechen. „Sonst kann man niemandem trauen. Jeder könnte ein Spitzel sein.“Für eine Flucht aus Raqqa ist es zu spät. Seit mehr als einem Monat scheint der IS niemanden mehr aus der Stadt zu lassen. Wer es trotzdem versuche und erwischt werde, müsse mit einer harten Strafe rechnen. Tatsächlich sind in Tal Abyad an der türkischen Grenze seit über vier Wochen keine neuen Flüchtlinge mehr angekommen. Der IS hält die verbliebenen Einwohner der Stadt als Geiseln und als lebende Schutzschilde.
Mohammed besorgt in Raqqa die Medikamente für seine krebskranke Frau. „Durch das Embargo kommt nichts mehr zu uns“, sagt er. Die Türkei hält ihre Grenze zur syrischen Kurdenregion seit Monaten geschlossen. Im März machte auch die Regierung der autonomen Kurdenregion im Irak die Grenzübergänge dicht, nachdem die syrischen Kurden eine eigene Föderation ausgerufen hatten.
„Nach Raqqa kommen Medikamente aus der Türkei, den Gebieten des Regimes und der Rebellen“, sagt Mohammed. „Auch Gemüse, Obst, Elektroteile sind dort billiger als hier.“Nur Brot sei bei den Jihadisten wesentlich teurer. In der IS-Stadt kann man aber nicht in großen Mengen einkaufen. „Ich wollte Kartoffeln und Tomaten jeweils zu zehn Kilo mitnehmen, dazu noch Möbel und Autoersatzteile“, sagt der Taxifahrer. „Aber das wurde nicht zugelassen.“Sollte seine Frau eine Operation brauchen, bliebe ihm nichts übrig, als über Raqqa irgendwie nach Damaskus zu gelangen. Ein Flugticket kann er sich, wie so viele andere, nicht leisten. „Geschäft ist Geschäft.“Raqqa ist mittlerweile von nahezu allen militärischen Nachschubrouten abgeschnitten. Aber die Handelswege sowie der Personenverkehr funktionieren noch, und das über alle territorialen Grenzen der Konfliktparteien hinweg – egal, wie verfeindet sie untereinander auch sein mögen. „Geschäft ist eben Geschäft“, sagt Mohammed schulterzuckend, während sein kleiner Sohn zu ihm krabbelt und er ihn auf den Arm nimmt.