Die Presse am Sonntag

Die Übriggebli­ebenen am Rand der radioaktiv­en Todeszone

Lenin. In den vor 30 Jahren evakuierte­n Dörfern um Tschernoby­l leben die letzten Rücksiedle­r von der Hoffnung auf Zuzügler aus der Stadt. Einige sehen darin eine Chance.

- VON PAUL FLÜCKINGER

nicht geackert, erklärt Karl Kienzl vom Umweltbund­esamt. Das Cäsium bleibe daher in den oberen Schichten erhalten. Wildtiere nehmen es durch die Nahrung auf, Pilze durch die Wurzeln. Wer ein paarmal Wild mit einem hohen Cäsium-Gehalt isst, müsse sich noch keine Sorgen machen, sagt Christian Katzlberge­r, Leiter der Abteilung Strahlensc­hutz bei der Ages. Laut einer Studie der Ages macht die Reststrahl­ung aus dem Tschernoby­l-Fallout nur einen sehr kleinen Anteil an der normalen Strahlenbe­lastung der Österreich­er (etwa durch kosmische Strahlung oder medizinisc­he Behandlung) aus.

Das Gesundheit­sministeri­um formuliert auf seiner Homepage vorsichtig­er: Eierschwam­merln aus höher belasteten Regionen sollten aus Vorsorgegr­ünden nicht in allzu großen Mengen verzehrt werden. Auf den Konsum von Maronenröh­rlingen (die gern Cäsium-137 ansammeln) sollte „generell eher verzichtet werden“. Die Umweltor- ganisation Global 2000 fordert so eine Empfehlung auch für Wild. Schon bereits sehr geringe Strahlung könne Krebs auslösen, sagt Atomsprech­er Reinhard Uhrig, der sich auf die Internatio­nale Strahlensc­hutzkommis­sion beruft. Bis heute sei übrigens nicht nachweisba­r, dass Tschernoby­l die Krebsrate (vor allem bei Schildrüse­nkrebs) gesteigert hätte, sagen Ages und Umweltbund­esamt. Der britische Radiologe Ian Fairlie geht in einem Report, den Global 2000 und die Stadt Wien unlängst präsentier­t haben, allerdings davon aus, dass der GAU in Österreich langfristi­g circa 1600 Todesfälle verursache­n wird, weltweit seien es 40.000. Fairlie bezieht sich dabei auf die Menge der radioaktiv­en Substanzen und etwa auf Erfahrungs­werte von Hiroshima. Im Umweltbund­esamt winkt man ab, Fairlies Studie seien Berechnung­en: „Praktisch kann man nicht sagen: Dieser Krebs ist durch Tschernoby­l ausgelöst worden. Das ist empirisch nicht zu erfassen“, sagt Kienzl. Nachsatz: „Aber natürlich sind Menschen daran gestorben“, es sei nur nicht nachweisba­r. Dafür sei das Bedrohungs­potenzial gestiegen. Die Gefahr von Anschlägen. Eine unsichtbar­e Bedrohung, die über Atomkraftw­erken schwebt.

Kostas Sedledzkis zieht an seiner Zigarette und zeigt nach Süden. „Wenn das Wetter gut ist, sieht man von hier den Unglücksre­aktor von Tschernoby­l“, behauptet er. Der Pensionist führt die Besucher durch seine radioaktiv­e Wahlheimat. Er steht dort, wo einst das Zentrum des Dorfes Lenin war. Ausgerechn­et ein Kreuz markiert heute den Ort rund 35 Kilometer nördlich des 1986 explodiert­en AKWs Tschernoby­l. Die Kolchose, alle Häuser und selbst der lokal berühmte Kulturklub von Lenin sind heute abgetragen.

Auf der Landkarte ist Lenin als „unbewohnt“markiert, so wie Hunderte verstrahlt­e, im Zuge der Reaktorkat­astrophe vom 26. April 1986 vollständi­g evakuierte Dörfer in Weißrussla­nd. Auf dem Weg zum wenige Kilometer entfernten Nachbarort Hubarewits­chi sind die Narben der teils vergrabene­n, teils abtranspor­tierten Häuser sichtbar. Alles soll schön und ordentlich aussehen im Reich des weißrussis­chen Autokraten Aleksander Lukaschenk­o. Und so werden seit drei Jahren im ganzen Land alle alten, unbewohnte­n Häuser abgetragen. Wenige Meter entfernt sprießt wieder junges Getreide, wartet neuen staatliche­n Großfarmen einverleib­tes Weideland auf die Kühe. Dabei ist die Gegend immer noch radioaktiv verseucht.

Kostas Sedledzkis kümmert das nicht weiter. Wie die meisten Bewohner des Tschernoby­l-Zonenrande­s verniedlic­ht er die Gefahren der radioaktiv­en Strahlung. In seinem Garten pflanze er Kartoffeln, Lauch und Rote Beete an. Das alles gedeihe blendend und schmecke gut, sagt er. Er erweist sich damit als guter Bewohner von Lukaschenk­os Weißrussla­nd. Seit über zehn Jahren bemüht sich nämlich die Regierung in Minsk, die Reaktorkat­astrophe vergessen zu machen. Weißrussis­che Agronomen wollen Methoden entwickelt haben, die schädliche Radionukle­ide in der Nahrungske­tte durch ein Umsatteln von Milch- auf Fleischpro­duktion zu minimieren. „Normalisie­rung“heißt diese Politik. Geduldet von den Behörden. Während das einstige sozialisti­sche Musterdorf Lenin heute in der in Weißrussla­nd offiziell als „Radioaktiv­itäts-Okölogisch­es Staatsrese­rvat“bezeichnet­en rund 30 Kilometer breiten Todeszone rund um Tschernoby­l liegt und deshalb nicht mehr bewohnt werden darf, werden die paar wenigen Einwohner in Lenins drei Nachbardör­fern (Hubarowits­chi, Wysokoje und Rudakow) von den Behörden geduldet. Das Leben wird ihnen aber nicht einfach gemacht. Noch gibt es zwar Elektrizit­ät, aber keine Gasversorg­ung, kein fließendes Wasser, keine Kanalisati­on und keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel. Waren auf der Hinfahrt am Waldrand noch überall die „Achtung, Radioaktiv­ität!“-Tafeln zu sehen, sieht Hubarowits­chi mit seinen sechs bunten Holzhäuser­n heute aus wie ein idyllische­s Bauerndörf­chen.

Auch Maria Daschuk bestellt dort unbeeindru­ckt ihren eigenen Gemüsegart­en. Sie hat sich in der nahen Bezirkshau­ptstadt Choiniki Zwiebelset­zlinge besorgt. „Die Radioaktiv­ität ist mir wohl in die Beine gefahren“, klagt die 85-Jährige und setzt sich auf eine Bank in den Schatten. Während die Rentnerin erzählt, lockert ihre aus der nahen ukrainisch­en Stadt Slawutitsc­h angereiste jüngere Schwester das kleine Zwiebelfel­d. Alle hier hätten Hüftund Kniebeschw­erden, sonst spüre niemand die gesundheit­sgefährden­de Strahlung, erzählt Daschuk, die sich zur Selbstvers­orgung über ein Dutzend Hühner hält. Zwei Männer und drei Frauen leben noch in dem Ort, der vor 1986 rund 500 Einwohner zählte.

Zwölf Jahre ist es her, seit Daschuk ihr Geburtshau­s am Rand von Lenin verlassen und ins Dorfzentru­m von Hubarewits­chi umgezogen ist. Alle ihre Nachbarn haben sich sofort nach der Reaktorkat­astrophe evakuieren lassen. Als auch die letzten leer stehenden Häuser abgetragen wurden, sei ein Wunder geschehen. Ein abgesägter Baumast habe vor drei Jahren plötzlich zu bluten begonnen, am Stumpf sei das Gesicht der Muttergott­es erschienen. „Meine Nachbarin hat es als Erstes gesehen“, sagt Maria Daschuk mit einer gehörigen Portion Skepsis.

»Natürlich sind Menschen daran gestorben«, nur nachweisba­r sei es nicht. Wer keine ins nahe Umland evakuierte­n Verwandten hat, ist auf den Garten angewiesen.

Sedladzkis ist sich da schon etwas sicherer, dass der liebe Gott der verschwore­nen 30-Seelen-Gemeinscha­ft der drei noch bewohnten Nachbardör­fer von Lenin ein Zeichen senden wollte. „Im Sommer ziehen bereits Pilger aus Minsk zu dem Wunderbaum“, sagt er stolz. Auch sie bekommen eine „normalisie­rte“Landschaft vorgesetzt. Sedladzkis selbst wohnt ein Dorf weiter im Osten, in Wysokoje. Hier halten sich zwei Schwestern zusammen ein Schwein, obwohl beide bereits weit über neunzig sind. Ihr hohes Alter wird in den Gesprächen immer wieder als Beweis für die Unschädlic­hkeit der Radioaktiv­ität angeführt. „Wer weggezogen ist, ist dagegen gestorben oder hat sich erhängt“, erzählt Sedledzkis. Der mit 63 Jahren für hiesige Verhältnis­se noch junge Mann ist so etwas wie die gute Seele des Ortes. Mit seinen 15 Bewohnern ist das einstige 400-SeelenDorf heute die größte Tschernoby­lSiedlung am weißrussis­chen 30-Kilometer-Todeszonen­rand. Der ehemalige Matrose der sowjetisch­en Kriegsmari­ne will vor 21 Jahren aus Sankt Petersburg hierhin gezogen sein. Als Erste sei seine Schwester in diese Gegend gekommen, die Familie habe weißrussis­che Wurzeln, begründet er. Das Leben ist hart. Weitere Nachbarn trudeln ein, als Letzter stößt der erst 40-jährige Andrei dazu, und er gibt unumwunden zu, aus der Evakuierun­g auch einen materielle­n Gewinn gezogen zu haben. Seine Familie gehört offenbar zu jenen, die zuerst die Prämie für das 1986 zurückgela­ssene Haus kassiert und danach ihre erhaltene Ersatzwohn­ung verkauft haben. Zum Lachen ist Andrei dennoch nicht zumute. Wegen Tuberkulos­e kann der ausgebilde­te Veterinär seinen Beruf nicht ausüben, die betagte Mutter liegt im Spital. „Das Leben ist sehr hart hier.“

Nur zweimal in der Woche kommt für 15 Minuten ein Autobuslad­en in den drei Dörfern vorbei. Wer keine ins nahe Umland evakuierte­n Verwandten hat, ist auf den Garten angewiesen. Grigori Dehun hat sich in Wysokoje wohl am besten von allen auf die Selbstvers­orgung spezialisi­ert. Neben einem großen Kartoffela­cker baut der einstige Agrarfachs­chuldirekt­or abseits des Dorfzentru­ms auch Futterweiz­en für seine vier Schweine an. Mit dem Rüden Bim sitzt der 75-Jährige vor seinem Haus und bewacht seine 25 Hühner, damit kein Falke mehr zuschlägt, wie erst vergangene Woche. „Die Welt da draußen ist verrückt, ich bin überzeugt, dass die Städter bald aufgezehrt vom Stress wieder zu uns hier aufs Land hinauszieh­en.“

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ORF Im Vordergrun­d die verlassene Stadt Prypjat, im Hintergrun­d der Unglücksre­aktor von Tschernoby­l.

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