Die Presse am Sonntag

Die Geigerzähl­er-Katze

Die Katze spürte als Erstes die Veränderun­g. Sie schützte ihre Jungen und uns vor der Strahlung.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Im Garten meiner Eltern in Salzburg gab es damals ein Katze, die sehr verwildert lebte. Sie ließ keinen Menschen an sich heran und betrat nie zuvor ein Haus. Doch im April 1986 änderte sich das. Nach dem Regen, der sich ab dem 29. April aus der Tschernoby­l-Wolke entlud, brachte die Katze Mutzi plötzlich alle drei Babykätzch­en, die sie wenige Tage zuvor zur Welt gebracht hatte, in unser Haus.

Sie schleppte eines nach dem anderen im typischen Halsgriff ins Wohnzimmer, legte sich mit den Katzenjung­en in ein Eck und war von diesem Tag an eine Hauskatze. Sie fauchte die Jungen an, wenn sie zur Terrassent­üre hinauswoll­ten und verbot so ihren Kindern den Kontakt mit der Außenwelt.

Wir erfuhren erst zwei Tage später den Grund, warum sie ihre Jungen ins Haus gebracht hatte: Die Außenwelt war von Radioaktiv­ität verseucht. Wir Kinder hatten selbst noch draußen ge- spielt, nach dem Regen, die Informatio­n der Katastroph­e war noch nicht zu uns durchgedru­ngen. Meine sechsjähri­ge Schwester war nach dem Regen krank, hatte Erbrechen und Durchfall: Die Ärzte im Landeskran­kenhaus fanden aber keinen Infekt, niemand wusste, was es war.

Doch die Katze spürte die Veränderun­g: Sie trank nach dem Regen keine frische Bauernmilc­h mehr. Wir setzten sie in der darauffolg­enden Zeit als „Geigerzähl­er“ein: Jedes Fleisch, das wir verkochen wollten, wurde im rohen Zustand der Katze vorgelegt. Verweigert­e Mutzi das Futter, verwarfen auch wir den Gedanken an Verzehr. Denn durch einen echten Geigerzähl­er, den wir uns ausliehen, um unseren Verdacht zu untersuche­n, wurde belegt: Wenn die Katze das Fleisch nicht fraß, dann tickte auch der Geigerzähl­er laut und hektisch, da die radioaktiv­e Strahlung erhöht war.

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