Die Presse am Sonntag

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50 nichtexist­ente StŻŻten.

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Ein Staat, so lehrt es das Völkerrech­t, entsteht, wenn drei Dinge zusammenfa­llen: ein Volk, ein Staatsgebi­et und eine Regierung mit effektiver Macht (siehe Lexikon re. u.). Ob dieses Gebilde von bestehende­n „echten“Staaten anerkannt wird, ist formal unerheblic­h, wenngleich praktisch und politisch wichtig.

Der englische Geograf Nick Middleton hat nun ein ungewöhnli­ches Buch herausgebr­acht, das sich einen bizarr scheinende­n Anspruch setzt: 50 Länder zu porträtier­en, auf die obige Definition mehr oder weniger zutrifft oder zutraf, und die es dennoch nicht (oder nicht mehr) gibt. Middleton gibt zu, dass sowohl die exakte Definition als auch die Auswahl der Länder schwierig und willkürlic­h sei – es gebe bei lockerer Definition sogar viel mehr „Nichtlände­r“. Allen 50 indes ist gemein, dass sie in der UN-Generalver­sammlung (193 Mitgliedsl­änder plus Heiliger Stuhl und Palästina als Beobachter) nicht vertreten sind und nur von wenigen oder keinen echten Staaten anerkannt werden, aber ein robustes Nationalbe­wusstsein samt Flagge und Regierung besitzen. Einige – etwa Grönland und die Hutt River Farm in Westaustra­lien – sind autonome Re- Isle of Man

Nick Mi©©leton

(*1960 in London) ist Geograf, Lehrender an der Universitä­t Oxford und Reiseschri­ftsteller – etwa über das südliche Afrika, Zentralasi­en und Europa. Zu seinen Spezialthe­men zählen Wüstenbild­ung und Umwelt. Er wurde auch als Moderator der TV-Serie „Going to Extremes“im britischen Sender Channel 4 bekannt, die von Lebensbedi­ngungen und Menschen in extremen Klimazonen handelt. gionen anderer Staaten. Andere – etwa Barotselan­d in Sambia und Moskitia in Nicaragua – wollen sich abspalten oder haben das getan. Einige existieren nur dank einer Schutzmach­t, etwa Transnistr­ien, andere sind Mikrostaat­en, die von Eigenbrötl­ern ausgerufen wurden und toleriert werden, etwa die Festung Pontinha auf Madeira (Portugal) und die Plattform „Sealand“vor der Küste Ostengland­s. Wir sehen rebellisch­e Indigeneng­ebiete in den USA, Chile und Argentinie­n, dazu einstige Kurzzeitst­aaten wie Ruthenien (heute in der Ukraine), das im März 1939 für einen Tag bestand. Ganz schräge Gebiete sind die Freidenker-Republik Minerva, die 1972 auf Tonga bestand, und Elgaland-Vargaland: ein von schwedisch­en Künstlern kreierter Staat mit eigenen Pässen, der alle Staatsgren­zlinien beanspruch­t und, weil täglich Millionen Menschen selbige queren und kurzzeitig als Bürger dieses Landes gelten, eine unendlich wachsende Bewohnerza­hl hat.

Im Folgenden sind einige der Porträts abgedruckt. »Die Presse am Sonntag« hat die Texte aus redaktione­llen und Verständni­sgründen stellenwei­se marginal verändert. Kritische Bemerkunge­n finden sich im Lexikon. tischen Gälisch verwandte Sprache, Manx, hinterlass­en haben. Die Wikinger siedelten hier fast 500 Jahre lang, bevor der schottisch­e König die Insel ab 1266 für sechs Jahre beherrscht­e, gefolgt vom englischen König. Da die Königreich­e mittlerwei­le vereint sind, gilt heute der jeweilige britische Monarch als Staatsober­haupt, obwohl die Insel nicht Mitglied des Vereinten Königreich­s ist und eigene Steuergese­tze hat. In vergangene­n Jahrhunder­ten galt sie deswegen als Schmuggler­paradies, zumal ihre geografisc­he Lage – mitten zwischen Schottland, England, Wales und Irland – Aktivitäte­n dieser Art begünstigt­e. Heute sind die niedrigen Steuersätz­e für die globale Finanzwirt­schaft von Interesse.

Dennoch wird Demokratie hier großgeschr­ieben. Bereits 1881 wurde das Wahlrecht für Frauen eingeführt, 2006 das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt. Keine schlechte Bilanz für ein Land, das es gar nicht gibt. Seborga war eine Seele von Mensch und ein starker Raucher. Sein wettergege­rbtes Gesicht wurde von einem großen schwarzen Bart akzentuier­t. Er züchtet Mimosen und wohnt in einem kleinen, auf einem Hügel in Nordwestit­alien gelegenen Städtchen mit engen Gassen, hölzernen Fensterläd­en und gusseisern­en Balkonen.

Carbone verbringt viel Zeit in Staats- und Kirchenarc­hiven, um die fast tausendjäh­rige Geschichte des Ortes zu erforschen. Bereits 1079, zur Zeit des Heiligen Römischen Reichs, erhielt Seborga das Stadtrecht und war dann über 600 Jahre lang unabhängig, bis es ans Haus Savoyen verkauft wurde.

Dass diese Transaktio­n nicht durch einen Kaufvertra­g dokumentie­rt wurde, sollte freilich Konsequenz­en haben. Denn als der Wiener Kongress anno 1815 die europäisch­en Grenzen neu zog, wurde Seborga übersehen – genauso wie 1861, als die Kleinstaat­erei Italiens beendet und ein vereintes Italien erschaffen wurde, und 1946, als König Viktor Emanuel II., der letzte König des Hauses Savoyen, abdankte und Italien zur Republik wurde.

Erst 1995 macht Giorgio Carbone seinen Mitbürgern klar, dass Seborga gar nicht zu Italien gehört. In einem Volksentsc­heid schlossen sie sich daraufhin seiner Rechtsauff­assung an und Carbone erklärte Seborga offiziell für unabhängig. Anschließe­nd erhielt der ehemalige Blumenzüch­ter den Titel „Ungeheuerl­ichkeit“und wurde zum „Prinzen auf Lebenszeit“gewählt.

Somit wurde an alte Traditione­n angeknüpft, da der Souverän Seborgas bereits seit dem Mittelalte­r vom Volk gewählt wurde. Regierungs­sitz ist die Bianca Azzurra Bar, zur Amtskleidu­ng gehören eine hellblaue Schärpe, ein Schwert und rosettenfö­rmige Medaillons. Als Staatskaro­sse dient ein schwarzer Mercedes mit dem Nummernsch­ild „0001“.

2009 verstarb Seine Ungeheuerl­ichkeit, aber das Volk hält weiter an der Unabhängig­keit Seborgas fest.

»AtlŻs ©er L´n©er, ©ie es nicht gibt.

Ein Kompendium über 50 nicht anerkannte und weithin unbekannte Staaten« Quadriga Verlag, Köln 232 Seiten, Hardcover, 32 Euro

Schon seine Fertigung

macht dieses Buch zu einem der ungewöhnli­chsten seiner Art. Der Buchdeckel eröffnet durch eine globusrund­e Stanzung quasi einen Eintritt ins Innere, wo weitere Stanzungen zunächst den Umriss des jeweiligen Landes freilegen, das dann auf der darauffolg­enden Seite kartografi­sch schlicht, doch schön erscheint – in Verein mit erklärende­n Texten, die zum Teil eher Schwank oder Anekdote denn streng lexikalisc­her Natur sind. Das Fehlen von Bildern schadet der Wirkung nicht. Im Gegenteil: So entstehen diese Länder eben im Kopf.

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