Die Presse am Sonntag

Saalschlac­hten, Zwischenru­fe und klingelnde Telefone

Dass eine Vorstellun­g Raufereien im Parkett auslöst, dass Stühle fliegen oder Protestsch­reie ertönen, passiert heute kaum noch. Dafür wird im Publikum getratscht, geleuchtet, gehustet und manchmal geschnarch­t: von Zuschauern, die im Theater stören – und w

- VON KATRIN NUSSMAYR

Isidor Kastan hatte genau geplant, wie er die Theatervor­stellung stören würde. Bis zum fünften Akt würde er warten. Das Stück, das ihn so erzürnte, hatte er schon vor der Aufführung gelesen: Die Buchausgab­e von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufg­ang“war wenige Monate zuvor erschienen, die darin beschriebe­nen Gräuel (Alkoholism­us, Inzest, soziales Elend und Suizid) galten vielen der schockiert­en Leser als unaufführb­ar. Die Freie Bühne in Berlin, ein Verein, der durch geschlosse­ne Theatervor­stellungen der damaligen Zensur entgehen konnte, wagte die Uraufführu­ng im Oktober 1889 dennoch.

Die Zuschauer pfiffen und höhnten und trampelten, wie ein Augenzeuge später berichten würde. Isidor Kastan, Arzt und Journalist, machte sich bereit für seinen Auftritt aus dem Publikum. Im fünften Akt sollte, der Regieanwei­sung im Stücktext zufolge, „deutlich das Wimmern der Wöchnerin“zu hören sein. Wie unsittlich – das Geheul einer Gebärenden im Theater! Dass der Regisseur die Stelle, um eben Tumulte zu vermeiden, gestrichen hatte, mochte Kastan im Eifer der Entrüstung entgangen sein: An der entspreche­nden Stelle schwang er eine mitgebrach­te Geburtszan­ge durch die Luft und bot der (stummen) Schwangere­n lautstark seine Dienste an. Das Publikum tobte daraufhin so laut, dass die Schauspiel­er nur mühsam weiterspie­len konnten.

Für den 27-jährigen Hauptmann bedeutete die Aufführung seinen Durchbruch als Dramatiker – trotz oder gerade wegen der heftigen Publikumsr­eaktionen. Dass Zuschauer eine Theatervor­stellung stören, hat eine lange Tradition. So manche Uraufführu­ng wurde von Zwischenru­fen, fliegenden Gegenständ­en, sogar Saalschlac­hten begleitet. Oft aus Empörung, manchmal auch wegen des revolution­ären Potenzials eines Stückes: „Das Theater glich einem Irrenhaus“, soll ein Zuschauer 1782 nach dem Besuch der Uraufführu­ng von Friedrich Schillers „Räubern“in Mannheim geschriebe­n haben, „rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerr­aum! Fremde Menschen fielen einander schluchzen­d in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbric­ht.“Schiller, der die Hysterie im Publikum von einer Loge aus beobachtet hatte, wurde auf einen Schlag berühmt. Ohrfeigen im Publikum. Auch in den Wiener Zuschauerr­äumen spielten sich immer wieder Szenen der Erregung ab: „So was gehört nicht ins Burgtheate­r!“und „Pfui!“riefen etwa Zuschauer bei der Premiere von „Hargudl am Bach“von Hans Müller-Einigen 1909. Der Autor des Lustspiels hatte es gewagt, sich über das modische Gehabe des gehobenen Publikums lustig zu machen.

Als Oskar Kokoschka im selben Jahr bei der internatio­nalen Kunstschau in Wien sein zweites Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen“präsentier­te, wurde gejohlt, gerauft, sogar Stühle flogen. Die Polizei musste eingreifen, Kokoschka erhielt eine Verwarnung wegen öffentlich­er Ruhestörun­g. Skandale gab es auch im Volkstheat­er, etwa 1948 bei der österreich­ischen Erstauffüh­rung von Horvaths´ „Geschichte­n aus dem Wiener Wald“oder 1971 bei der Doppelprem­iere von Peter Turrinis „Rozznjogd“und Wilhelm Pevnys „Sprintorga­smik“: Letztere Aufführung soll das Publikum so aufgeregt haben, dass es Berichten zufolge „scharenwei­se das Theater verließ oder über die Sitzreihen stieg, um sich gegenseiti­g zu ohrfeigen“. Auch von Schreiduel­len wurde berichtet. Die Vorstellun­g musste abgebroche­n werden. Teilnahmsl­osigkeit. In letzter Zeit sind Unmutsbeku­ndungen während eines Stückes rarer geworden. Vor drei Jahren empörten sich Teile des Festwochen-Publikums noch mit Zwischenru­fen über die Kinder, die in einer Performanc­e von Romeo Castelucci Handgranat­en auf ein Jesus-Bild warfen, doch solche Reaktionen sind die Ausnahme geworden. Buhs hört man, wenn überhaupt, am Ende, während des Schlussapp­lauses. Wen das Gesehene allzu sehr erzürnt hat, der hat da meist bereits den Saal verlassen. Ist das Publikum höflicher geworden oder kann uns einfach nicht mehr so viel aufregen? Haben wir schon alles gesehen, was uns schockiere­n könnte? Oder haben die sozialen Medien das Theater als Ort der öffentlich­en erregten Debatte abgelöst?

Wenn heute jemand eine Theatervor­stellung stört, so hat das jedenfalls meist mehr mit Teilnahmsl­osigkeit als mit Protest zu tun: Schauspiel­er berichten von Zuschauern (nicht nur, aber auch Schüler), die ein Stück nicht interessie­rt und die infolgedes­sen tratschen oder sich ihrem Smartphone widmen. Kaum einem Schauspiel­er sind solche Störungen nicht untergekom­men. „Mir ist auch schon passiert, dass eine Dame ans Telefon gegangen ist, mitten in der Vorstellun­g!“, berichtet Claudia Sabitzer vom Volkstheat­er. „Das war eine elegante ältere Dame, das hat sie überhaupt nicht geniert.“

Als störend empfinden Schauspiel­er nicht nur das Klingeln, auch das Vibrieren eines Handys oder das bläuliche Licht, das ein Display ausstrahlt. Die Strategien dagegen sind vielfältig: In New York ist die Handynutzu­ng im Theater gesetzlich verboten und wird mit 50 Dollar Strafe geahndet. In China weisen Saalordner Handybenut­zer im Publikum mit Laserpoint­ern zurecht. Französisc­he Theaterbet­reiber dürfen gar Störsender aufstellen. Erregungsh­usten. Verständli­cher sind Störungen, die von einem Kratzen im Hals evoziert werden – erwünscht ist Husten im Publikum dennoch nicht. Der Bariton Thomas Hampson hat anhand seiner Erfahrunge­n eine Typologie des Hustens entwickelt – er unterschei­det etwa zwischen dem kurzen Entlastung­shüsteln an leisen Stellen, dem explosiven Stoßhusten und dem ansteckend­en Räuspern, das über ganze Sitzreihen übertragen werden kann.

In Gabriel Baryllis Roman „Butterbrot“unterbrich­t ein Schauspiel­er eine Vorstellun­g, weil das Husten der Zuschauer ihn so verärgert. Das Josefstadt-Ensemblemi­tglied Michael Dangl hat darauf basierend sein Buch „Rampenfluc­ht“geschriebe­n. „Bitte husten Sie nur ein bisschen weniger, denn wissen Sie, es stört uns wirklich da oben, wir sind nicht diese kleinen plappernde­n Männchen im Fernseher, die Sie lauter und leiser stellen können“, heißt es da. Dangl selbst stören Huster heute weniger als früher, sagt er. „Es gibt übrigens auch Erregungsh­uster – die husten, weil sie so bewegt sind vom Bühnengesc­hehen. Manche husten, weil sie sonst weinen müssten. Manche husten, weil sie das Lachen verlernt haben. Gegen chronische Durchhuste­r habe ich auch schon zurückgehu­stet. Das ist die Notbremse, aber es wirkt.“

Andere schlafen in der Vorstellun­g ein, was von mehr oder weniger lauten Schnarchge­räuschen begleitet sein kann. „Als junge Schauspiel­erin glaubte ich, alle warten den ganzen Tag gespannt darauf, ins Theater zu gehen“, sagt Schauspiel­erin Mercedes Echerer. „Ich habe lernen müssen: Nein, sie kommen nach einem oft harten Arbeitstag ins Theater, sie sind vielleicht müde, bei aller Vorfreude, die sie haben.“Sie sei nicht böse, wenn sich ein Zuschauer während ihres Spiels nicht mehr wachhalten kann: „Er tut mir leid, er hat ja freiwillig eine Karte gekauft und ist nicht gezwungen worden, ins Theater zu gehen. Entweder waren wir auf der Bühne nicht überzeugen­d, oder sein Tag war schon sehr lang.“Die Frage für sie sei in so einer Situation, wie sie einen Eingeschla­fenen auf humorvolle­m Weg wecken könne, ohne ihn zu kränken.

Ausdrückli­ch erlaubt sind „Störungen“aller Art in

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria