Saalschlachten, Zwischenrufe und klingelnde Telefone
Dass eine Vorstellung Raufereien im Parkett auslöst, dass Stühle fliegen oder Protestschreie ertönen, passiert heute kaum noch. Dafür wird im Publikum getratscht, geleuchtet, gehustet und manchmal geschnarcht: von Zuschauern, die im Theater stören – und w
Isidor Kastan hatte genau geplant, wie er die Theatervorstellung stören würde. Bis zum fünften Akt würde er warten. Das Stück, das ihn so erzürnte, hatte er schon vor der Aufführung gelesen: Die Buchausgabe von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“war wenige Monate zuvor erschienen, die darin beschriebenen Gräuel (Alkoholismus, Inzest, soziales Elend und Suizid) galten vielen der schockierten Leser als unaufführbar. Die Freie Bühne in Berlin, ein Verein, der durch geschlossene Theatervorstellungen der damaligen Zensur entgehen konnte, wagte die Uraufführung im Oktober 1889 dennoch.
Die Zuschauer pfiffen und höhnten und trampelten, wie ein Augenzeuge später berichten würde. Isidor Kastan, Arzt und Journalist, machte sich bereit für seinen Auftritt aus dem Publikum. Im fünften Akt sollte, der Regieanweisung im Stücktext zufolge, „deutlich das Wimmern der Wöchnerin“zu hören sein. Wie unsittlich – das Geheul einer Gebärenden im Theater! Dass der Regisseur die Stelle, um eben Tumulte zu vermeiden, gestrichen hatte, mochte Kastan im Eifer der Entrüstung entgangen sein: An der entsprechenden Stelle schwang er eine mitgebrachte Geburtszange durch die Luft und bot der (stummen) Schwangeren lautstark seine Dienste an. Das Publikum tobte daraufhin so laut, dass die Schauspieler nur mühsam weiterspielen konnten.
Für den 27-jährigen Hauptmann bedeutete die Aufführung seinen Durchbruch als Dramatiker – trotz oder gerade wegen der heftigen Publikumsreaktionen. Dass Zuschauer eine Theatervorstellung stören, hat eine lange Tradition. So manche Uraufführung wurde von Zwischenrufen, fliegenden Gegenständen, sogar Saalschlachten begleitet. Oft aus Empörung, manchmal auch wegen des revolutionären Potenzials eines Stückes: „Das Theater glich einem Irrenhaus“, soll ein Zuschauer 1782 nach dem Besuch der Uraufführung von Friedrich Schillers „Räubern“in Mannheim geschrieben haben, „rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.“Schiller, der die Hysterie im Publikum von einer Loge aus beobachtet hatte, wurde auf einen Schlag berühmt. Ohrfeigen im Publikum. Auch in den Wiener Zuschauerräumen spielten sich immer wieder Szenen der Erregung ab: „So was gehört nicht ins Burgtheater!“und „Pfui!“riefen etwa Zuschauer bei der Premiere von „Hargudl am Bach“von Hans Müller-Einigen 1909. Der Autor des Lustspiels hatte es gewagt, sich über das modische Gehabe des gehobenen Publikums lustig zu machen.
Als Oskar Kokoschka im selben Jahr bei der internationalen Kunstschau in Wien sein zweites Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen“präsentierte, wurde gejohlt, gerauft, sogar Stühle flogen. Die Polizei musste eingreifen, Kokoschka erhielt eine Verwarnung wegen öffentlicher Ruhestörung. Skandale gab es auch im Volkstheater, etwa 1948 bei der österreichischen Erstaufführung von Horvaths´ „Geschichten aus dem Wiener Wald“oder 1971 bei der Doppelpremiere von Peter Turrinis „Rozznjogd“und Wilhelm Pevnys „Sprintorgasmik“: Letztere Aufführung soll das Publikum so aufgeregt haben, dass es Berichten zufolge „scharenweise das Theater verließ oder über die Sitzreihen stieg, um sich gegenseitig zu ohrfeigen“. Auch von Schreiduellen wurde berichtet. Die Vorstellung musste abgebrochen werden. Teilnahmslosigkeit. In letzter Zeit sind Unmutsbekundungen während eines Stückes rarer geworden. Vor drei Jahren empörten sich Teile des Festwochen-Publikums noch mit Zwischenrufen über die Kinder, die in einer Performance von Romeo Castelucci Handgranaten auf ein Jesus-Bild warfen, doch solche Reaktionen sind die Ausnahme geworden. Buhs hört man, wenn überhaupt, am Ende, während des Schlussapplauses. Wen das Gesehene allzu sehr erzürnt hat, der hat da meist bereits den Saal verlassen. Ist das Publikum höflicher geworden oder kann uns einfach nicht mehr so viel aufregen? Haben wir schon alles gesehen, was uns schockieren könnte? Oder haben die sozialen Medien das Theater als Ort der öffentlichen erregten Debatte abgelöst?
Wenn heute jemand eine Theatervorstellung stört, so hat das jedenfalls meist mehr mit Teilnahmslosigkeit als mit Protest zu tun: Schauspieler berichten von Zuschauern (nicht nur, aber auch Schüler), die ein Stück nicht interessiert und die infolgedessen tratschen oder sich ihrem Smartphone widmen. Kaum einem Schauspieler sind solche Störungen nicht untergekommen. „Mir ist auch schon passiert, dass eine Dame ans Telefon gegangen ist, mitten in der Vorstellung!“, berichtet Claudia Sabitzer vom Volkstheater. „Das war eine elegante ältere Dame, das hat sie überhaupt nicht geniert.“
Als störend empfinden Schauspieler nicht nur das Klingeln, auch das Vibrieren eines Handys oder das bläuliche Licht, das ein Display ausstrahlt. Die Strategien dagegen sind vielfältig: In New York ist die Handynutzung im Theater gesetzlich verboten und wird mit 50 Dollar Strafe geahndet. In China weisen Saalordner Handybenutzer im Publikum mit Laserpointern zurecht. Französische Theaterbetreiber dürfen gar Störsender aufstellen. Erregungshusten. Verständlicher sind Störungen, die von einem Kratzen im Hals evoziert werden – erwünscht ist Husten im Publikum dennoch nicht. Der Bariton Thomas Hampson hat anhand seiner Erfahrungen eine Typologie des Hustens entwickelt – er unterscheidet etwa zwischen dem kurzen Entlastungshüsteln an leisen Stellen, dem explosiven Stoßhusten und dem ansteckenden Räuspern, das über ganze Sitzreihen übertragen werden kann.
In Gabriel Baryllis Roman „Butterbrot“unterbricht ein Schauspieler eine Vorstellung, weil das Husten der Zuschauer ihn so verärgert. Das Josefstadt-Ensemblemitglied Michael Dangl hat darauf basierend sein Buch „Rampenflucht“geschrieben. „Bitte husten Sie nur ein bisschen weniger, denn wissen Sie, es stört uns wirklich da oben, wir sind nicht diese kleinen plappernden Männchen im Fernseher, die Sie lauter und leiser stellen können“, heißt es da. Dangl selbst stören Huster heute weniger als früher, sagt er. „Es gibt übrigens auch Erregungshuster – die husten, weil sie so bewegt sind vom Bühnengeschehen. Manche husten, weil sie sonst weinen müssten. Manche husten, weil sie das Lachen verlernt haben. Gegen chronische Durchhuster habe ich auch schon zurückgehustet. Das ist die Notbremse, aber es wirkt.“
Andere schlafen in der Vorstellung ein, was von mehr oder weniger lauten Schnarchgeräuschen begleitet sein kann. „Als junge Schauspielerin glaubte ich, alle warten den ganzen Tag gespannt darauf, ins Theater zu gehen“, sagt Schauspielerin Mercedes Echerer. „Ich habe lernen müssen: Nein, sie kommen nach einem oft harten Arbeitstag ins Theater, sie sind vielleicht müde, bei aller Vorfreude, die sie haben.“Sie sei nicht böse, wenn sich ein Zuschauer während ihres Spiels nicht mehr wachhalten kann: „Er tut mir leid, er hat ja freiwillig eine Karte gekauft und ist nicht gezwungen worden, ins Theater zu gehen. Entweder waren wir auf der Bühne nicht überzeugend, oder sein Tag war schon sehr lang.“Die Frage für sie sei in so einer Situation, wie sie einen Eingeschlafenen auf humorvollem Weg wecken könne, ohne ihn zu kränken.
Ausdrücklich erlaubt sind „Störungen“aller Art in