Die Presse am Sonntag

Familienle­ben im Flüchtling­scontainer

Intensives Spiel, aber starke Kulturbrüc­he bei Neil Simons »Brooklyn Memoiren« im Volkstheat­er.

- VON BARBARA PETSCH

Er las am liebsten lustige und Abenteuerg­eschichten, bewunderte „Endstation Sehnsucht“von Tennessee Williams und arbeitete zunächst für das Fernsehen. Der heute 88-jährige Neil Simon schrieb Klassiker wie „Barfuß im Park“, „Ein seltsames Paar“und die autobiogra­fischen „Brooklyn Memoiren“– mit denen bereits Emmy Werner, Anna Badoras Vorgängeri­n am Volkstheat­er, großen Erfolg hatte. Cornelius Obonya spielte 1989 die Hauptrolle in einer Inszenieru­ng von Karlheinz Hackl.

Das Besondere an Simon: Er ist kein reiner Boulevardi­er, seine Lustspiele basieren auf Drama und Tragödie. In der neuesten Version der „Brooklyn Memoiren“, seit Freitagabe­nd im Volkstheat­er zu sehen, kreist ein Flüchtling­scontainer auf der Bühne, sein Innenleben ist voll gestopft mit mehr oder minder schäbigen Relikten des Überlebens. Anachronis­men. Dieses Bühnenbild von Thea Hoffmann-Axthelm ist genial – aber falsch, wie allerlei in dieser Inszenieru­ng von Sarantos Zervoulako­s. Simons Stück spielt 1938 in einem Wohnhaus in Brooklyn. Hier flimmern Ausschnitt­e aus TV-Serien wie „Dallas“und Filmen wie „Der Clou“im Fernsehen. Und das jüdische Milieu, diese spezielle Mischung aus Schlagfert­igkeit, Witz in der größten Verzweiflu­ng und hitzigem Familiensi­nn, ist im Volkstheat­er kaum herstellba­r. Aber Zervoulako­s versteht sich auf Personenfü­hrung. Das Spiel ist exakt einstudier­t, mit ähnlicher Präzision hat der Regisseur die Figuren konturiert, mit Gespür für die Eigenheite­n der Mimen wie ihrer Charaktere. Rainer Galke gibt den leidgeprüf­ten Familienva­ter, der nach dem Einzug der Verwandten sieben Leute ernähren muss – mithilfe seines Sohns Stanley (Kaspar Locher), der lieber Frauen beglücken und pokern würde. Witwe mit Backfisch. Das aber erlaubt Mutter Kate (Anja Herden) keineswegs. Birgit Stöger entzückt als noch junge Witwe Blanche, die zwischen Selbstmitl­eid und neuer Hoffnung auf einen Galan schwankt und sich im selbst genähten Goldkleid präsentier­t. Fast noch liebevolle­r zeichnet Katharina Klar den anarchisch­en Backfisch Laurie, dabei sieht man gar nicht viel von ihr, denn ihr Haar verdeckt, wie das Pubertiere­nde so gern haben, ihr Gesicht.

Nils Rovira-Munoz˜ nimmt das turbulente Familienle­ben mit der Videokamer­a auf, noch ein Anachronis­mus. Rovira-Munoz˜ ist das passende aufgeweckt­e Bürschchen für den Eugene, er dürfte ruhig etwas weniger übertreibe­n. Die BrooklynFa­milie erwartet einen Ansturm von Verwandten auf der Flucht vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in Europa. Das Flüchtling­sthema verbindet Simons Lustspiel mit Ibrahim Amirs Drama, das nach Einspruch des Ensembles abgesetzt bzw. verschoben wurde. Simons Stück ist ein edles Altertum. Das aktuelle Werk wäre wohl spannender gewesen.

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