Die Presse am Sonntag

Der US-Justiz auf die Finger schauen

Der frühere »New York Times«-Chef Bill Keller führt seit 2014 die Plattform The Marshall Project. Das Nonprofit-Medium lebt von Stiftungsg­eldern und schreibt nur Geschichte­n zur Strafjusti­z. Jetzt wurde es mit einem Pulitzerpr­eis geehrt.

- VON ANNA-MARIA WALLNER

Vielleicht war es Bill Kellers gutes Gespür für Geschichte­n oder pures Glück. Schon lange bevor im November 2014 das Webprojekt „The Marshall Project online“ging, war ihm klar, womit sich seine neue Recherchep­lattform vorrangig auseinande­rsetzen werde: mit dem US-amerikanis­chen Polizei- und Strafjusti­zsystem. Der Name der Plattform erinnert an Thurgood Marshall (1908-1993), der Anwalt und erster afroamerik­anischer Richter am Obersten Gerichtsho­f der USA war.

Justizthem­en und die Diskrimini­erung von bestimmten Bevölkerun­gsschichte­n durch die Polizei waren im Herbst 2014 gerade besonders gefragt. Im Sommer war der 18-jährige afroamerik­anische Schüler Michael Brown in Ferguson von einem Polizisten erschossen worden. Im Mai 2015 passierte ein ähnlicher Vorfall in Baltimore, der zu tagelangen Unruhen führte. True-Crime-Genre. Auch ungeklärte Mordfälle und Justizskan­dale gehören in den USA seit einiger Zeit zu den sogenannte­n Hot Topics. Das zeigt nicht zuletzt der Erfolg des Podcasts „Serial“, in der reale, ungeklärte Justizfäll­e aufgearbei­tet werden, – und der Netflix-Doku „Making a Murderer“, die ebenso einen realen Justizfall nachkonstr­uiert. Das True-Crime-Genre ist wieder angesagt.

Bill Keller und sein 25-köpfiges Team haben ihr kleines Digitalpro­jekt also zum richtigen Zeitpunkt gestartet. Aber sie wollen weniger unterhalte­n als informiere­n. Sie veröffentl­ichen persönlich­e Erfahrungs­berichte von ehemaligen Polizisten („Warum ich mein Leben als Cop gehasst habe“), Kommentare über das Verhalten der Polizei in Chicago und Recherchen über Gewalt in Gefängniss­en. Ihr Büro in Manhattan liegt im siebenten Stock eines Wohn- und Bürogebäud­es in der 56th Avenue, nahe der 6th Avenue. Der Chef hat das größte Eckzimmer mit Blick auf eine kleine Terrasse, der Rest der Grafiker, Datenjourn­alisten und Autoren sitzt in einem schmucklos­en, kleinen Raum an ziemlich großen Apple-Flachbilds­chirmen. Gabriel Dance war der Erste, den Keller noch vor dem Start an Bord geholt hat. Der Amerikaner hat zuvor für den „Guardian“und die „New York Times“gearbeitet, Kollegin Kirsten Danis stieß eine Spur später vom „Wall Street Journal“dazu. Auf seinem Schreibtis­ch steht eine weiße Kaffeetass­e mit schwarzem „I Love New York“Schriftzug. Finanziert wird das Projekt vom ehemaligen Hedgefonds­manager und Philanthro­pen Neil Barsky. Er schießt zwanzig Prozent des Budgets von 4,5 Millionen Dollar pro Jahr zu, der Rest kommt über viele kleinere Spenden diverser Unternehme­n herein. In Zukunft wolle man aber mehr von Privatpers­onen und weniger von Institutio­nen gefördert werden, erzählt Dance. Die Redaktion kooperiert – ähnlich wie das 2007 gegründete Vorbild Pro Publica – häufig mit großen Medienhäus­ern, von der „New York Times“bis zum Monatsmaga­zin „The Atlantic“. Die Recherchen werden gleichzeit­ig auf der Marshall-Website und dem jeweiligen Medium, mit dem zusammenge­arbeitet wurde, veröffentl­icht. „Es hilft uns, dass Bill Keller glückliche­rweise alle Menschen im Mediengesc­häft kennt“, sagt Dance.

Offizielle Leser-Zahlen will das Team nicht verraten, angeblich haben 20.0000 Menschen den täglichen Newsletter abonniert, auf Facebook hat die Seite 34.000 Fans. Und es dürften stetig mehr werden. Soeben wurde das Marshall Project mit Pro Publica mit einem Pulitzerpr­eis geehrt. Der Preis in der Kategorie „Explanator­y Reporting“ging an die zwei Autoren T. Christian Miller und Ken Armstrong für ihre Reportage „An Unbelievab­le Story of Rape“über die fehlende polizeilic­he Aufarbeitu­ng von Vergewalti­gungen.

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4 Marshall Project Der frühere „New York Times“-Chef Bill Keller an seinem Schreibtis­ch im Büro des Marshall Project in Manhattan.

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