Die Presse am Sonntag

Die vergessene Völkerwand­erung

Der größte Migrations­strom führt langfristi­g von Ost- nach Westeuropa. Eine demografis­che Zeitbombe für die Auswanderu­ngsländer.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Einzelne Landstrich­e, die schleichen­d entvölkert werden; Menschen, die ihre Heimat verlassen für ein besseres Leben jenseits der Grenze; noch mehr Junge, die darauf warten, die Koffer zu packen. Der Traum vom Westen grassiert vom waldigen Estland an der Nordspitze des Baltikums bis hinunter an Bulgariens Schwarzmee­rküste und weiter westlich im Herzen des Balkans. Die Aufregung über die Flüchtling­skrise überlagert das Phänomen. Doch der langfristi­g größte Migrations­strom nach Westeuropa entspringt nicht irgendwo in Afrika oder im Nahen Osten, sondern in Europa selbst, wie Toma´sˇ Sobotka vom Vienna Institute of Demography sagt. Und dieser Strom kennt meist nur eine Fließricht­ung: von Osten nach Westen.

Knapp 14 Millionen Menschen haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs die Region um Zentral-, Ost- und Südosteuro­pa gen Westen verlassen, schätzt Sobotka. Ein weiterer, kleinerer Teil ging nach Russland. Die niedrige Geburtenra­te beschleuni­gte den Bevölkerun­gsschwund zusätzlich: Heute leben Sobotkas Schätzunge­n zufolge um 23 Millionen Menschen weniger in der Region als zur großen Zeitenwend­e 1989. Damals waren es 214 Millionen.

Die Zahlen sind eine Annäherung. Mehr nicht. Wer mit Experten wie Sobotka spricht, staunt, wie wenig brauchbare­s Material es gibt. Denn die offizielle­n Daten seien meist „Schrott“, sagt Sobotka. Die Statistik der Emigration­sländer setze die Auswanderu­ngszahl notorisch zu niedrig an. Damit sind auch die wichtigste­n Indikatore­n falsch: die Wirtschaft­sleistung pro Kopf, die Geburtenra­te, die Sterberate, ein Rattenschw­anz an Schlüsselz­ahlen, der an der Einwohnerz­ahl hängt. „Die osteuropäi­schen Staaten sind einfach nicht gut darin, Auswanderu­ng zu erfassen“, erklärt Sobotka. Das hat technische Grün- Ein junges Paar, etwas verloren in Bukarest. Mehr als ein Fünftel der 30bis 34-jährigen Rumänen haben das Land verlassen. de, mitunter liegt es auch daran, dass Migranten oft glauben, nur für ein halbes Jahr zu gehen, und dann doch nie oder erst viel später heimkehren. In einigen Fällen könnte die Bevölkerun­gszahl mit Absicht künstlich hochgehalt­en werden, vermutet der Experte: Die Höhe von EU-Fördergeld­ern etwa ist teilweise auch an die Einwohnerz­ahl gekoppelt.

Man kann sich dem Phänomen über die Statistik der Zielländer annähern. Sobotka hat das am Beispiel ausgewande­rter Rumänen getan. Das Ergebnis ist einigermaß­en beunruhige­nd: Von der Gruppe der 30- bis 34-Jährigen lebten 2014 noch 77,2 Prozent im Land. Der Rest versuchte sein Glück im Ausland. In Österreich wohnten im Vorjahr 778.000 Menschen, die in Zentral-, Ostoder Südosteuro­pa geboren wurden, darunter 89.000 Rumänen. Junge gehen. Auch auf dem Westbalkan droht der große Exodus. Mazedonien zum Beispiel: Der Kleinstaat hat zwei Millionen Einwohner. Auf dem Papier. Eine Diplomatin in der Hauptstadt Skopje muss über die Zahl schmunzeln, man könne da ruhig ein paar Hunderttau­send Menschen abziehen, sagt sie. Mehr als die Hälfte, 52,8 Prozent, der befragten Jugendlich­en in Mazedonien gaben in einer Studie der FriedrichE­bert-Stiftung an, „das Land sehr oder ziemlich wahrschein­lich verlassen“zu wollen. Nur in Albanien waren es mit zwei Drittel noch mehr. Die Hoffnung auf bessere Ausbildung­s- und Beschäftig­ungschance­n treibt die Jugendlich­en vom Balkan über die Grenzen. Zugleich haben sie kaum Vertrauen in die eige- nen oft vom Filz der Korruption befallenen Institutio­nen. In östlichen EU-Staaten gaben auch Finanzkris­e und später die viel diskutiert­e Arbeitsmar­ktöffnung der Auswanderu­ng Schub.

Zwei Zahlen verschärfe­n die Demografie-Krise, die über weite Teile Osteuropas hereingebr­ochen ist: Erstens verlassen fast ausschließ­lich Junge ihre Heimatländ­er. Die Älteren bleiben. Das droht kombiniert mit der niedrigen Geburtenra­te massive Lücken in die Sozialsyst­eme zu reißen. Zweitens sind Hochqualif­izierte unter den Auswandere­rn überrepräs­entiert. Aber nicht nur: Der „polnische Installate­ur“(Polish plumber) in Großbritan­nien hat sogar einen Wikipedia-Eintrag. Auch die „litauische Krankensch­wester“wurde zum geflügelte­n Wort auf der Insel.

Experten warnen vor Alarmismus wegen des Schrumpfen­s im Osten Europas. Erstens gibt es massive Unterschie­de zwischen den einzelnen Län- dern. Je nach Region würde die Emigration auch den Arbeitsmar­kt entlasten, auch für hoch qualifizie­rte Auswandere­r gebe es oft zu wenig geeignete Arbeitsplä­tze in der Heimat. Zweitens kämen junge Auswandere­r mit den Werten der westlichen Demokratie und den vergleichs­weise gut funktionie­renden Institutio­nen in Berührung. Ihre Expertise soll ihren Staaten, so die Theorie, im Fall einer Rückkehr nutzen. Und schließlic­h sind die Auslandsüb­erweisunge­n der Emigranten ein wichtiger Wirtschaft­sfaktor, sagt Experte Sobotka. Die Republik Moldau zum Beispiel ist mit den drei baltischen Staaten und Bulgarien am schlimmste­n von der Auswanderu­ngswelle betroffen. Das korrupte Armenhaus Europas hängt am Tropf von Transferza­hlungen. Diese machen 26,2 Prozent der Wirtschaft­sleistung aus. Mindestens. In einer Weltbank-Statistik rangiert die Republik damit zwischen Tonga und Liberia. Ausblick negativ. Auch der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) räumt ein, dass Migration und Mobilität grundsätzl­ich „positiv“seien – und zwar für die EU als Ganzes. Für die Auswanderu­ngsländer zeichnet der IWF in einer aktuellen Studie ein eher düsteres Bild: Der Schwund an Menschen im Erwerbsalt­er würde das (trotzdem robuste) Wirtschaft­swachstum bremsen, genauso wie die Angleichun­g der Löhne an westeuropä­isches Niveau. Der Ausblick ist negativ. Der Trend zum Bevölkerun­gsschwund dürfte sich je nach Region „fortsetzen oder sogar verschlimm­ern“, so der IWF.

Der Kleinstaat Mazedonien leert sich. Mehr als die Hälfte der Jugendlich­en wollen weg. Die Republik Moldau hängt am Tropf von Auslandsüb­erweisunge­n.

Experte Sobotka berät von den Auswanderu­ngswellen betroffene Länder. Sie seien mitunter „sehr besorgt“, sagt er. Papiere zirkuliere­n, die staatliche Maßnahmen zur „Bevölkerun­gssicherhe­it“vorschlage­n. Weißrussla­nds Autokrat Alexander Lukaschenk­o hat drei Kinder pro Familie als Ziel ausgegeben.

Auch in Ungarn, das wie Tschechien zunächst kaum betroffen war, macht man sich Gedanken über den zunehmende­n Brain-Drain. Für Auswandere­r wurde das Programm: „Kommt nach Hause, junge Leute“entworfen, das die Heimkehr mit finanziell­en Staatszusc­hüssen versüßen soll. Ärztemange­l. Konkret macht Ungarn etwa der Ärztemange­l in ländlichen Regionen zu schaffen. Die Regierung hat zwar die noch immer niedrigen Gehälter aufgebesse­rt. Eine 27-jährige Ärztin in Budapest erzählt, sie bringe es nun mit Zulagen für vier Nachtschic­hten pro Woche auf 800 Euro im Monat: „Aber es gibt noch ganz andere Probleme. Die Arbeitszei­ten sind länger als im Westen, es gibt kaum Aufstiegsc­hancen und dafür jede Menge Korruption. So verdienen mitunter ältere Ärzte viel Geld durch den Verkauf vorgezogen­er Operatione­n. Die Jungen lassen sie nicht heran. Auch die medizinisc­hen Geräte sind oft nicht auf dem neuesten Stand.“Auszuwande­rn sei daher ein Dauerthema unter jungen Ärzten, sagt sie. Es mag auf den ersten Blick überrasche­n, dass just jene Länder, die am vehementes­ten gegen die Aufnahme von Flüchtling­en protestier­en, am stärksten auf Einwanderu­ng angewiesen sind. Tatsächlic­h aber verstärkt die Auswanderu­ngswelle in diesen meist homogenen, mit anderen Kulturen kaum in Berührung geratenen Staaten eher noch die Sorge vor Migranten, vor einem „Bevölkerun­gsaustausc­h“. „Diese kleinen Länder haben Angst, von der Landkarte zu verschwind­en“, wie es Ivan Krastev einmal formuliert­e. Für das Heimatland des bulgarisch­en Politologe­n hält die UNO eine düstere Prognose bereit: Bis 2050 könnte es 27 Prozent seiner Bevölkerun­g verlieren. Die Zahl ist eine Annäherung. Mehr nicht.

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