Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Wir Menschen nutzen Pflanzen intensiv, wir gefährden immer mehr Arten, wir tragen stark zu ihrer Verbreitun­g bei. Höchste Zeit, unser Verhältnis zu ihnen neu zu überdenken.

Man schätzt, dass alle irdischen Lebewesen zusammen 1800 Mrd. Tonnen wiegen. Tiere und Menschen machen mit 2,2 Mrd. bzw. 400 Mio. Tonnen nur einen Bruchteil aus; der Löwenantei­l sind – neben Mikroorgan­ismen – die Pflanzen: Jedes Jahr entstehen durch Fotosynthe­se 150 Mrd. Tonnen neue Biomasse!

Wie viele Pflanzenar­ten es gibt, ist unbekannt. Je genauer man hinschaut, umso mehr neue Arten tauchen auf. Aktuell kennt man rund 391.000 verschiede­ne Gefäßpflan­zen, allein im Vorjahr kamen 2034 neue Arten dazu. Wie aus dem kürzlich von den Kew Royal Botanic Gardens veröffentl­ichten „State of the World’s Plants“-Bericht hervorgeht, nutzen wir Menschen davon nur wenige – nämlich 31.128 Arten (als Medizin, Lebensmitt­el, Materialun­d Energielie­feranten usw.). Dennoch üben wir einen gigantisch­en Einfluss auf die Pflanzenwe­lt aus: Durch unsere Handlungen ist rund ein Fünftel aller Pflanzenar­ten in ihrem Bestand bedroht.

Anderersei­ts tragen wir auch massiv zu ihrer Ausbreitun­g bei: Mindestens 13.168 Pflanzenar­ten haben wir auf andere Kontinente und in andere Lebensräum­e verfrachte­t. Dort fühlen sich viele (laut Bericht 4979 Pflanzenar­ten) pudelwohl und überwucher­n die heimische Flora. Zudem bieten wir manchen Gewächsen Bedingunge­n, in denen sie viel stärker wachsen, als sie es in der Natur tun würden – nämlich in landwirtsc­haftlichen Kulturen.

Diese Tatsache hat der US-Autor Michael Pollan mit einer auf den ersten Blick sonderbar wirkenden Frage umschriebe­n: Wie schafft es die Pflanze, uns Menschen so in den Dienst zu nehmen, dass wir sie kultiviere­n und ihr Erbgut verbreiten helfen? Er meint, dass nicht nur wir Menschen die Pflanzen domestizie­rt hätten, sondern auch die Pflanzen uns für ihre Ziele einspannen.

In diesem Gedanken drückt sich aus, dass sich zur Zeit ein gewisser Standortwe­chsel in unseren Beziehunge­n zu Mitlebewes­en vollzieht. So boomt derzeit auch eine neue philosophi­sche Richtung namens Pflanzen-Ethik. In einem FWF-Projekt fragt etwa die Wiener Philosophi­n Angela Kallhoff, ob Pflanzen einen vom Menschen unabhängig­en Wert, einen Eigenwert, oder gar so etwas wie Würde haben. Sie macht sich auch Gedanken über den Zusammenha­ng zwischen dem „Gedeihen“(einem guten Zustand) von Pflanzen und einer Ethik des „guten Lebens“für uns Menschen – also über naturvertr­ägliche Formen des Glücks. Gute Fragen, auf die wir Antworten finden sollten! Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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