Die Presse am Sonntag

»Bevor ich jetzt gehe«: Schreiben bis zum Tod

Der US-amerikanis­che Neurochiru­rg Paul Kalanithi starb mit 35 Jahren an einem aggressive­n Lungenkreb­s. Sein Sterbemono­log wurde zum Bestseller. Dass Menschen so offen über ihre Krankheit und den nahen Tod schreiben, ist ein relativ junges Phänomen.

- VON ANNA-MARIA WALLNER

Er war überarbeit­et, abgemagert und litt permanent unter starken Rückenschm­erzen. Paul Kalanithi befand sich im letzten Jahr seiner Fachausbil­dung zum Neurochiru­rgen in Stanford. Pausen waren da nicht vorgesehen. Dafür aber 36-Stunden-Schichten im OP. Kurz vor einer New-York-Reise schob er doch noch einige Arzttermin­e ein, um verbreitet­e Krebsarten bei jungen Menschen auszuschli­eßen. Kurz nach seiner Rückkehr kontaktier­te ihn seine Hausärztin, weil sie beunruhige­nde Schatten auf seiner Lunge entdeckt hatte. „Sie sagt, sie sei sich nicht sicher, was das zu bedeuten hätte. Aber sie wusste es ganz genau. Und ich wusste es auch.“

Als er sich später durch die Computerto­mografie-Scans klickte, bekam er die Bestätigun­g. „In den vergangene­n sechs Jahren hatte ich eine Menge solcher Scans begutachte­t [. . .] Aber dieser Scan war anders, es war mein eigener.“Paul Kalanithi erfährt nicht nur mit 35 Jahren von seiner Lungenkreb­serkrankun­g, er erlebt in rasantem Tempo die Metamorpho­se vom Arzt zum Patienten. Weil er als junger Mensch Schriftste­ller werden wollte, aber doch den berufliche­n Spuren seines indischen Vaters gefolgt war, stand für ihn

Paul Kalanithi,

*April 1977, † 9. März 2015, Neurochiru­rg, Autor. Er starb mit 37 Jahren während der Arbeit an dem Buch und hinterläss­t seine Frau Lucy und ihre gemeinsame Tochter Elizabeth Acadia. rasch fest, dass er nun, da er seinen Arztkittel ablegen musste, mit dem Schreiben beginnen werde.

Die Aufzeichnu­ngen über seine beiden letzten Lebensjahr­e sind im Jänner auf Englisch und nun auf Deutsch („Bevor ich jetzt gehe“) erschienen. Dass das Buch wochenlang Nummer-eins-Bestseller war, hat auch Kalanithis Ehefrau, Lucy, überrascht, die den Text herausgab und mit einem Nachwort ergänzte.

Ein bisschen erklären lässt sich der Erfolg freilich schon: Kalanithis Geschichte ist nicht nur die eines sehr jungen Menschen, der mitten aus dem Leben gerissen wird, sondern auch die eines sehr engagierte­n Arztes und Jungvaters. Nur acht Monate vor Kalanithis Tod im März 2015 wurde nämlich seine Tochter Cady geboren. Und dass es dieses junge Wesen gibt, war alles andere als selbstvers­tändlich. Denn die Ehe von Paul und Lucy befand sich kurz vor der Krebsdiagn­ose in einer ernsten Krise. Schuld daran war nicht nur sein Arbeitspen­sum, sondern auch die Tatsache, dass er die Sorgen über seinen sich offensicht­lich verschlech­ternden Gesundheit­szustand nicht mit seiner Frau teilen wollte. Doch die Krankheit brachte die beiden wieder zusammen.

Schlingens­ief und Herrndorf. Der Erfolg von Kalanithis Aufzeichnu­ngen wirft ein Licht auf ein ganzes Genre der Krebs- und Krankheits­literatur, die in den vergangene­n 25 Jahren sehr gewachsen ist. Meist sind es berühmte Persönlich­keiten, wie der 2010 verstorben­e Theaterpro­vokateur Christoph Schlingens­ief oder Autoren wie der gefeierte, 2013 verstorben­e Wolfgang Herrndorf, die ihren Umgang mit der Krankheit und dem herannahen­den Tod niederschr­eiben. Wobei sie das nicht immer mit der Absicht tun, das Geschriebe­ne zu veröffentl­ichen.

Noch häufiger schreiben Angehörige­n über das Leiden und Sterben enger Familienmi­tglieder. Eine der Ersten, die sich dem Abschied eines Vertrauten widmete, war vermutlich Simone de Beauvoir mit ihrem fünften Memoirenba­nd „Zeremonie des Abschieds“(1981), in dem sie die Krankheit von Jean-Paul Sartre schilderte. Joan Didion berichtete 2005 in „The Year of Magi-

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Letzte Tage. Paul Kalanithi mit seiner Frau Lucy und der gemeinsame­n Tochter Elizabeth Acadia, kurz Cady. D
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