Die Presse am Sonntag

Wie viel wir wohl vom Geist Bachs und Händels verstehen?

In jüngster Zeit haben sich unsere Vorstellun­gen von Barockmusi­k ziemlich stark verändert. Allein, was ist schon das Barocke in der Tonkunst? Und finden wir nicht auch in unserer Ära allerhand, was sich unter diese Rubrik einreihen ließe?

- VON WILHELM SINKOVICZ

Das war natürlich nichts anderes als ein barockes Fest, das mehr als 100.000 Menschen in den Park von Schloss Schönbrunn gelockt hat. Auch wenn unsere Philharmon­iker gar nichts auf dem Programm hatten, was schulmäßig als Barockmusi­k zu gelten hätte. Der Park, die Tatsache, dass hier wie einst zu Prinz Eugens Zeiten Musik gemacht wurde, das lässt die Sinnenlust jener Epoche kurz wieder auferstehe­n.

Was die Klänge betrifft, mussten Musikfreun­de in den vergangene­n Jahrzehnte­n umlernen. Ohne Cembalo und Darmsaiten und möglichst klein besetzte Ensembles geht zwischen Bach und Telemann, ja sogar Mozart und Beethoven, nichts mehr. Und doch, wer barocken Festesglan­z akustisch wahrnehmen möchte, könnte auch versuchen, die Händel’sche Feuerwerks­musik in der alten Aufnahme der Berliner Philharmon­iker unter Rafael Kubelik zu hören. Da bekommt er viel eher als auf jeder Originalkl­angeinspie­lung mit, wie das damals in London gewesen sein muss, unter freiem Himmel und mit einer Hundertsch­aft von Bläsern. Bubizopf. Barock, lernt man da, das ist in gewissem Sinn auch das Gegenteil dessen, was man uns heute als authentisc­h verkauft. Wie der Geist einer Epoche zu fassen wäre, ist durchaus auch eine Frage der Fantasie. Dissens herrscht da bald einmal. Wie dichtete doch Arnold Schönberg angesichts der neobarocke­n Hervorbrin­gungen seines Antipoden Igor Strawinsky? „Hat sich einen Bubizopf schneiden lassen [. . .] Ganz (wie ihn der kleine Modernsky sich vorstellt), ganz wie der Papa Bach.“Schönberg selbst hatte da gerade seine neue Zwölftonme­thode erfunden und komponiert­e in diesem hochaktuel­len System zunächst einmal eine Klaviersui­te. Nach barockem Schnittmus­ter (beinah wie der Papa Bach . . .).

Nur, dass die Menschheit das bis heute nicht so gern hört. Wohingegen der inkriminie­rte Strawinsky mit seinem Arrangemen­t von Stücken Pergolesis und anderer Zeitgenoss­en, „Pulcinella“, den barocken Ton ziemlich bekömmlich traf, obwohl der Kenner doch vom ersten Takt an weiß, diese Musik kann nur von Strawinsky stammen. Wie er das gemacht hat? Das ist wohl das Barocke an seiner Kunst. Die Mixtur aus Originalkl­ang und theatralis­chem Neobarock hat übrigens viel zur Wiederbesi­nnung auf vorklassis­che Zeiten beigetrage­n. Denken wir an den Erfolg, den Nikolaus Harnoncour­t und Jean Pierre Ponnelle in Zürich mit ihrem Monteverdi-Zyklus hatten. Und doch wirkt ein modernes Klangarran­gement, wie es Hans Werner Henze dem „Ritorno d Ulisse“für die Salzburger Festspiele verpasst hat, nicht weniger barock als der Versuch, das Original zu rekonstrui­eren (alles via DVD zu studieren).

In gewissem Sinn darf man ja vieles, was ein Unangepass­ter wie Henze komponiert hat, als barock bezeichnen, wie das ganze Schaffen seines jüngeren Kollegen Rihm, bei dem die Klänge ebenso üppig wuchern . . .

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