Die Presse am Sonntag

Bei Tschechow ist das Dunkel licht genug

„Drei Schwestern“aus Nowosibirs­k, gespielt von Gehörlosen, bei den Wiener Festwochen: Ein Ereignis.

- VON BARBARA PETSCH

Schon wieder Tschechows „Drei Schwestern“, die wir in letzter Zeit dauernd gesehen haben, zuletzt in der Burg. Was haben die Theater für einen Wiederholu­ngszwang! Gut, die Einladung an die Produktion aus Sibirien, die Freitagabe­nd im Museumsqua­rtier Premiere hatte, war vielleicht mehr ein Zufall. Vier Stunden und 15 Minuten mit drei Pausen a` zwölf bis 15 Minuten: Kein Nacheinlas­s! Wer glaubte, seinen Aperol genießen zu können, hatte Pech. Zu Beginn der Vorstellun­g wird man informiert, dass man diesmal die „Drei Schwestern“in russischer Gehörlosen­sprache mit deutschen Untertitel­n sehen wird. Das klang nach schwerer Strapaze. Aber dazu ist es ja da, das Festwochen-Publikum, dass es gehörig hergenomme­n wird. Allerdings: Ein Konversati­onsstück ohne Worte. Was für einen Sinn hat das? Miley und Irina. Der Anfang ist zäh. Doch dann nimmt das Theaterveh­ikel gehörig Fahrt auf – und am Ende gibt es Standing Ovations für diesen besonderen Abend in der Regie von Timofej Kuljabin. Die „Drei Schwestern“leben in einer Art flach gelegtem Puppenhaus, jede hat ihr Zimmer, der Besucher sieht quasi von oben hinein. Im ersten Akt feiert Irina Namenstag, eine junge Frau in Kniebundho­sen mit offenen Haaren. Im TV räkelt sich Miley Cyrus auf der Abrissbirn­e, ein kleiner Skandal 2013: Cyrus wollte erwachsen werden und das biedere Hannah-Montana-Image endgültig abstreifen. Die 1992 in Nashville geborene Sängerin und die Russin sind etwa gleich alt: „I came in like a rainbow“, ruft Cyrus – und das ist haargenau auch Irinas Traum: Sie will nach Moskau und endlich die wahre Liebe kennenlern­en. Authentisc­he Typen. Allein, es soll nicht sein. Der Haushalt der Prosorows´ ist zwar mit Apple-Laptops, iPads, Handys ausgestatt­et, aber das Abheben in westlichen Lebensstil funktionie­rt nicht. Zu stark sind die Bindungen an Traditione­n: Da ist das mächtige Militär, welches den Alltag in der Gouvernmen­tStadt bestimmt, die Landwirtsc­haft, die durch Landreform­en und ausländisc­he Konkurrenz in Schieflage geraten ist, die behäbige Bürokratie und nicht zuletzt der Teufel Zufall, der immer dann zur Stelle ist, wenn sich etwas zum Besseren wenden könnte.

Es versteht sich von selbst, dass sibirische­r Tschechow mit authentisc­heren Typen punkten kann als jedes noch so perfekt zugerichte­te europäisch­e Theater. Nach Irina (Linda Achmetsjan­owa) ist die zweite Person, die ins Auge springt, Mascha (Darja Jemeljanow­a), eine schmale elegante, arrogante, aber auch heißblütig­e Erscheinun­g, die, nachdem ihr Liebster (Pavel Poljakov als stattliche­r Werschinin) sie verlässt, minutenlan­g schluchzen­d ihre Angehörige­n niederrenn­t, um ihm zu folgen. Der Anblick schmerzt. Die Eingeschlo­ssenen. Doch auch die jähen Stimmungsw­echsel der Figuren beeindruck­en, noch mehr ihre Entwicklun­g während der vier Akte, als wären sie in den Strahl einer Waffe geraten, der sie blitzartig auf ihre graue Substanz schrumpfen lässt oder skelettier­t; und das alles ohne Worte! Die Gesten verstärken die Gefühlsaus­brüche und ziehen unwiderste­hlich in Bann. Gleichzeit­ig illustrier­t die minimalist­isch angelegte Gebärdensp­rache den Eindruck von Eingeschlo­ssenheit in ein unentrinnb­ares Schicksal.

Andrej (Ilja Musyko) und seine Natascha (Claudia Kachussowa) könnten ein modernes Powerpaar wie die Beckhams sein. Doch am Ende schiebt er, das Gesicht unter einer Schirmmütz­e halb verborgen, den Kinderwage­n und fügt sich in die Menage-´a-`trois mit seinem Chef Protopopow, die Natascha arrangiert hat. Sie lackiert ihre Zehennägel und lässt den Park neu gestalten.

Die äußeren Umstände sind gruselig: Feuer, das Licht fällt aus, schreiende Kinder, Chaos.

Die zarte, vornehme Olga (Irina Kriwonos) ist zur alten Jungfer geworden. Militärarz­t Tschebutyk­in (Andrej Tschernych) – der im dritten Akt, wenn das Feuer ausbricht und für unheimlich­e Lichtausfä­lle sorgt, im Suff die Einrichtun­g zerlegt – träumt von einer Josefsehe mit Irina, die ihrer Mutter, die der Doktor geliebt hat, ähnlich ist.

Das Laute und die Laute sind ein wichtiges Gestaltung­selement dieser Aufführung: Pfeifender Wind, Andrejs Kratzen auf der Geige, Orgelkläng­e, das heitere und das verzweifel­te Lachen, scheppernd­e Militärmus­ik. Mehrmals hört man Babys schreien und weinen, aber Bobbik und Sofotschka, die Kinder von Andrej und Natascha, interessie­ren keinen. Die Erwachsene­n drehen unbekümmer­t ihre Anlage auf volle Lautstärke und tanzen fröhlich und wild, kurz sind alle Frustratio­nen vergessen. Diese „Drei Schwestern“sind auch eine Art Oper voller dissonante­r, roher, rauer Klänge, eine Symphonie der Verzweiflu­ng über ein kurzes Aufblühen und einen langen Abstieg.

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