Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Abschied. Warum auch Kern den Mehrheitsv­erlust von Rot-Schwarz nicht verhindern kann. Und das Parteiensy­stem wegen seines lahmgelegt­em Erneuerung­smechanism­us zerbricht.

In einer Wohlfahrts­demokratie tut eine Regierung zweierlei: Erstens begünstigt sie spezielle Wählergrup­pen und verteilt die Kosten dafür auf alle, damit sie es nicht so spüren. Zweitens begünstigt sie – etwa durch eine Steuerrefo­rm – die große Masse auf Kosten spezifisch­er Gruppen (Raucher, Autofahrer etc.). Sie erzeugt damit zwangsläuf­ig Frustratio­n. Begünstigt sie eine bestimmte Gruppe, zählen sich alle anderen zu den Verlierern. Begünstigt sie die Allgemeinh­eit, verpufft das, denn niemand hat seine relative Position verbessert. Aber wer dafür zur Kassa gebeten wird, spürt es.

Daran kommt keine Regierung vorbei. Auch wenn sie gut arbeitet, kann sie diesen Prozess nur verlangsam­en, aber nicht stoppen: Immer mehr Menschen meinen, dass sie die einzigen Nettozahle­r des Sozialsyst­ems sind, dass ihre Anliegen nichts gelten, dass die Politik hauptsächl­ich den anderen dient. Das subjektive Draußensei­n wird noch verstärkt, wenn die eigene Weltanscha­uung zu kurz kommt, was sie zwangsläuf­ig tut, mal mehr, mal weniger. Irgendwann wird man dann entweder Nichtwähle­r oder wählt die Opposition, die so einst die Regierung ablösen wird. Und das Spiel beginnt von vorn.

Das ist so, weil vermeintli­che Benachteil­igungen ebenso stark wirken wie tatsächlic­he, und weil Dankbarkei­t schnell verfliegt, da man ein Recht auf die Wohltaten zu haben meint. Ein Beispiel ist die Auswirkung der Flüchtling­spolitik auf die Präsidente­nwahl: Wer sich vom „System“alleingela­ssen fühlt, den hat empört, dass die Regierung anfänglich die Sicherheit der Flüchtling­e wichtiger genommen hat als seine eigene. Diese Empörung hat den späteren Kurswechse­l der Regierung auch dann überdauert, wenn die eigene Sicherheit nie tatsächlic­h gefährdet war. Und die Flüchtling­sfreunde sind sowieso empört über den Kurswechse­l.

Eine alteingese­ssene Koalition kann kein Steuer herumreiße­n. Auch Christian Kern kann nicht verhindern, dass bei der nächsten Wahl Rot-Schwarz unter Wasser kommt. Wegen der Ausgrenzun­g der FPÖ ist ausgeschlo­ssen, was eine normale Demokratie erneuert: dass die Regierung abgewählt, die Frustratio­n damit ausgelebt und verarbeite­t wird. Stattdesse­n kommt vielleicht eine letzte Verlängeru­ng der Regierung (mit Grünen und/oder Neos) – und dann hört entweder die FPÖ-Ausgrenzun­g auf (wofür es zu spät sein dürfte) oder das ganze System zerbricht mangels Möglichkei­t zur Erneuerung. Das könnte schon bald mit der Entstehung einer linken Sammelpart­ei jenseits des rechten SPÖ-Flügels beginnen. Und dann wird sowieso alles anders. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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