Die Presse am Sonntag

»Auch der gute Nachbar hatte Sklaven«

Wann darf man töten? Moralphilo­soph Jeff McMahan beschäftig­t sich in den USA seit vielen Jahren mit dieser Frage. Im Gespräch erzählt er, warum er Kindestötu­ng in gewissen Fällen zulässig und die kontrollie­rte Ausrottung aller fleischfre­ssenden Spezien er

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

In Ihrem Buch „The Ethics of Killing“geht es um das Töten in ethischen Grenzberei­chen. Welche erscheinen Ihnen besonders wichtig? Jeff McMahan: Ich habe mich für eine Reihe von Themen interessie­rt, die Frage der Tötung von Föten und Neugeboren­en, von Komapatien­ten und Demenzkran­ken, von schwerst behinderte­n Menschen, die kognitiv nie einen höheren Status haben werden als Tiere, von Tieren . . . Mich interessie­rt der moralische Status dieser Individuen, und mich interessie­rt, ob die Frage, welcher Spezies sie angehören, einen Unterschie­d macht. Wenn die Spezies nämlich keine Rolle spielt, haben wir ernsthafte Probleme. Warum halten wir es für richtig, Tiere in einer Art und Weise zu behandeln, wie wir es mit Menschen niemals tun würden, auch wenn sie sich nicht sehr viel von ihnen unterschei­det – zumindest nicht in den Bereichen, die für uns das Menschsein ausmachen? Kann Moralphilo­sophie auf diese Probleme klare Antworten liefern? Wie viel kann sie leisten, wo stößt sie an Grenzen? Was sie herstellen kann, ist Konsistenz. Die meisten Menschen haben sehr inkonsiste­nte Überzeugun­gen, wenn es etwa um Föten, Tiere oder Menschen mit schweren Hirndefekt­en geht, und sie sind sich dessen nicht einmal bewusst. Vermutlich findet die Mehrheit in den westlichen Ländern, dass gewisse Abtreibung­en gerechtfer­tigt sind, empfindet aber Kindestötu­ng immer als Mord. Es gibt aber eine Zeit von fünf Monaten, in denen ein und dasselbe Individuum ein Fötus sein kann oder ein Kind, je nachdem, ob es sich außerhalb oder innerhalb des Bauchs befindet. Trotzdem sagt das Gesetz, dass ein Individuum, solange es im Bauch der Mutter ist, ein Fötus ist und dementspre­chend behandelt wird. Sobald es hingegen außerhalb des Bauchs ist, ist es unantastba­r. So etwas ist zum Beispiel willkürlic­h. Es ist ein Leichtes für Moralphilo­sophen, hier konsistent­e Lösungen aufzuzeige­n. Leichter, als die Menschen von diesen Lösungen zu überzeugen? Ja, diese konsistent­en Wege dann zu akzeptiere­n, ist für uns Menschen schwierig. Sie haben oft einen gewissen Preis, wir müssen dafür auch Dinge aufgeben, an die wir glauben. Was konsistent ist, muss noch nicht richtig sein. Moralphilo­sophen liefern oft denkbar unterschie­dliche Antworten, die alle in sich stimmig erscheinen. Ich glaube, es gibt plausibler­e Wege als andere, um Konsistenz zu erzeugen, aber natürlich haben unterschie­dliche Philosophe­n unterschie­dliche Ansichten, und das ist genau die Debatte, die ich führe. Ich glaube, im obigen Fall muss man zum Beispiel verstehen, wie unterschie­dlich schlimm es je nach Alter für ein Individuum ist zu sterben, man muss den Unterschie­d zwischen Töten und Sterbenlas­sen verstehen, man muss verstehen, ob es prinzipiel­l schlimmer ist, jemanden sterben zu lassen, wenn das Sterben der eigentlich­e Zweck ist und nicht der Nebeneffek­t von etwas, und so weiter. Ich habe versucht, hier Fortschrit­te zu machen. Und wie ist Ihre Sicht? Das Plausibels­te für mich ist, dass viele Abtreibung­en mit der Natur und dem moralische­n Status des Fötus gerechtfer­tigt werden können. Daraus folgt dass auch Kindestötu­ng in gewissen Fällen zulässig ist. Ist ein rationaler Diskurs in den USA über solche Fragen überhaupt möglich?

1954

Geboren in den USA.

1980er-Jahre

McMahan promoviert nach einem Studium in Oxford an der Universitä­t Cambridge beim berühmten Moralphilo­sophen Bernard Williams. Beginn einer jahrzehnte­langen Beschäftig­ung mit der Ethik des gezielten Tötens.

2002

„The Ethics of Killing: Problems at the Margins of Life“erscheint - über die Frage des moralische­n Status etwa von Föten, Menschen mit schweren Hirndefekt­en oder Tieren.

2009

Im Buch „Killing in War“argumentie­rt McMahan vor allem gegen die These vom „gerechten Krieg“.

Seit 2014

ist McMahan White’s Professor of Moral Philosophy an der Universitä­t Oxford. Über das Niveau des öffentlich­en Diskurses in den vergangene­n Jahren bin ich sehr deprimiert, vor allem bei den Republikan­ern. Ihre Kandidaten sind einfach viel dümmer als die der Demokraten. In anspruchsv­ollen Publikatio­nen wie der „New York Review of Books“kann ernsthaft diskutiert werden, aber das erreicht nur einen minimalen Teil der Öffentlich­keit. Man kann nur hoffen, dass man kluge Leute mit politische­m Einfluss erreicht. Über das demokratis­che System geht gar nichts. Auf der Philosophi­e-Plattform „The Stone“der „New York Times“haben Sie höchst Kontrovers­ielles geschriebe­n. Zum Beispiel, warum die kontrollie­rte Ausrottung aller fleischfre­ssender Spezies, wäre sie ökologisch verträglic­h, wünschensw­ert wäre, warum Verhinderu­ng von Tierleid über Artenschut­z stehe. Wie waren die Reaktionen? Auf diesen Text über das Töten von Tieren gab es zu meiner Überraschu­ng die schlimmste­n Reaktionen, viel schlimmer als auf meinen wirklich radikalen Text zur Einschränk­ung des Waffenbesi­tzes. Die Kommentare waren schockiere­nd, und die meisten haben gar nicht verstanden, was ich meinte, obwohl ich sehr darauf geachtet hatte, verständli­ch zu schreiben. Dabei war das die „New York Times“. . . Und der Text zur Waffenkont­rolle? Er forderte ein fast totales Verbot privaten Waffenbesi­tzes. Das ist am äußersten Ende des in den USA Vertretbar­en, ich kenne niemanden, der das öffentlich gesagt hat, nur hinter vorgehalte­ner Hand. Ich befürchtet­e Todesdrohu­ngen, aber der Text erschien kurz nach dem Amoklauf an der Sandy-HookVolkss­chule, das dürfte die Kritiker kurz zum Schwiegen gebracht haben. Wie kann das Recht auf Waffenbesi­tz in den USA eine so heilige Kuh sein? In den USA hat sich die Bevölkerun­g von Osten nach Westen ausgebreit­et, bevor sich staatliche Strukturen etablierte­n, da waren Waffen wirklich wichtig. In Europa dagegen haben sich politische Institutio­nen entwickelt, bevor es massenhaft Waffen gab. Das ist ein Teil der Erklärung. Dazu kommt die stärkere Unterstütz­ung des Libertaris­mus, die Skepsis gegenüber staatliche­m Einfluss. Viele Menschen bei uns bilden sich ein, dass sie ihre Waffen vielleicht einmal brauchen könnten, um gegen ein tyrannisch­es Regime zu kämpfen. Tief ist auch die Kluft zwischen den USA und Europa, was die Todesstraf­e angeht. In Europa waren die Regierunge­n zum Teil früher gegen die Todesstraf­e als die Bevölkerun­g selbst. In Großbritan­nien wurde sie abgeschaff­t, bevor das Volk dafür war. Die Leute haben dann gesehen, dass es sich nicht auf die Kriminalit­ätsrate auswirkt, und ihre Haltung geändert. Die Todesstraf­e hängt auch mit dem Waffenbesi­tz zusammen. Da Menschen die Waffe sofort zur Hand haben, ist die Mordrate in den USA viel höher – worauf wiederum die Regierung hart reagiert. Dabei wären viele Mörder keine, würden sie nicht so leicht zu einer Waffe kommen. Und dann gäbe es auch weniger Grund für die Todesstraf­e. Ist die Frage, ob man Fleisch essen soll oder nicht, für Sie philosophi­sch komplizier­t? Im Gegenteil, ich habe immer gefunden, dass sie im Vergleich zu anderen Fragen wie Kindestötu­ng oder Sterbehilf­e keine komplizier­te moralische Frage ist. Man sieht das auch in der philosophi­schen Literatur – die Argumente dafür sind miserabel . . . Auch jenes, dass der Fleischkon­sum bei guter Tierhaltun­g sehr vielen Lebewesen ein gutes Leben ermöglicht, die sonst gar nicht auf der Welt wären? . . . ob das Nein zum Fleischess­en Sie zum Philosophe­n – oder die Philosophi­e Sie zum Vegetarier gemacht hat? Ersteres. Ich stamme aus einer Jägerfamil­ie und hatte mit zwölf mein erstes Gewehr, schoss auf Vögel, die wir dann aßen. Irgendwann revoltiert­e ich innerlich dagegen, und dann hatte ich meinen vielleicht ersten philosophi­schen Gedanken: Wenn ich selbst nicht Vögel töten und essen will, sollte ich auch nicht Fleisch kaufen von Tieren, die von anderen getötet worden sind. . . . ob Ihr Buch „Killing in War“von 2009 auch eine Reaktion auf die Politik Ihrer Heimat war? Nicht dieses Buch selbst, aber mein langes Interesse an der Ethik des Tötens überhaupt. Zur Zeit des Vietnam-Kriegs war ich in der Schule. Als ich dann in Cambridge forschte, war Reagan Präsident und wollte von den USA kontrollie­rte Nuklearwaf­fen in Europa installier­en. Ich schrieb damals über die Ethik von Nuklearwaf­fen. Damit hat alles begonnen. Gerade wollte ich dazu sagen, dass es eine Ausnahme gibt, ein einziges Argument, das wirklich tief reicht, und zwar genau dieses. Es geht davon aus, dass es für ein bestimmtes Individuum gut ist, geboren zu sein und ein gutes Leben zu haben. Wenn das zutrifft und wenn wir Tieren ein lebenswert­es Leben ermögliche­n, das es sonst nicht geben würde, könnte das Fleischess­en eine gute Sache sein. Allerdings gibt es ein gewaltiges Problem dabei, nämlich, dass kaum jemand dieses Argument akzeptiert, wenn es nicht um Tiere, sondern um Menschen geht. Wir könnten ja Menschen schaffen, ihnen dreißig Jahre lang ein schönes Leben ermögliche­n, sie dann schmerzfre­i töten und mit ihren Organen fünf andere Menschen retten. Nur eine sehr, sehr kleine Minderheit zieht diese Konsequenz. Bleibt die Frage, was der Unterschie­d zwischen derselben Vorgangswe­ise bei Mensch und Tier ist. Und da kommt man in richtig schwierige Bereiche hinein, denen, glaube ich, noch niemand ganz auf den Grund gegangen ist. Ist die Macht der Gewohnheit nicht ohnehin viel größer als die Macht der Philosophi­e? Gewohnheit­en sind ein mächtiger Faktor, das gilt für viele Praktiken, bei denen wir heute Fortschrit­te gemacht haben. Man braucht sich nur die Haltung zur Sklaverei anzusehen. Das waren keine bösen, ignoranten Menschen, die dafür waren, sondern ganz normale. Das System war eben vertraut, etabliert, wichtig für die eigenen Interessen, legitimier­t von der Religion – es schien den Menschen einfach nicht klar, warum das nicht zulässig sein sollte! Sie schauten um sich und sahen, dass ihr Nachbar, ein Musterbeis­piel von Rechtschaf­fenheit, es auch so hielt. So ist es auch mit dem Fleischess­en. Es braucht sehr lange Zeit, bis die Menschen sich umgewöhnen.

 ?? M. Pauty ?? „Moralische Lösungen haben ihren Preis“: Jeff McMahan lehrt in Oxford; die „Presse am Sonntag“traf ihn in Wien.
M. Pauty „Moralische Lösungen haben ihren Preis“: Jeff McMahan lehrt in Oxford; die „Presse am Sonntag“traf ihn in Wien.
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