Die Presse am Sonntag

»System führt zu tausenden Ertrinkend­en«

Außenminis­ter Sebastian Kurz will Bootsflüch­tlinge nach dem Vorbild Australien­s rigoros abschrecke­n: Ein EU-Grenzschut­zkorps solle sie im Mittelmeer abfangen, sofort zurückschi­cken oder auf Inseln wie Lesbos und Lampedusa interniere­n.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Das Flüchtling­sabkommen zwischen der EU und der Türkei könnte platzen. Was dann? Sebastian Kurz: Die Türkei kann die Kooperatio­n jederzeit aufkündige­n. Wenn wir uns auf die Türkei verlassen, begeben wir uns in eine gefährlich­e Abhängigke­it. Plan A muss ein starkes Europa sein, das imstande ist, seine Grenzen selbst zu schützen und selbst zu entscheide­n, wer nach Europa kommen kann und wer nicht. Diese Entscheidu­ng darf weder an die Türkei noch an Schlepper delegiert werden. Den Wunsch, dass Europa seine Grenzen selbst schützt, äußern diverse Politiker schon länger, aber offenbar ist das nicht so einfach im Mittelmeer. Das sehe ich anders. Gerade Seegrenzen wurden oft genützt, um Zuwanderun­g zu steuern. Es ist ja kein Zufall, dass Einwandere­r in die USA zuerst auf Ellis Island vor New York ankamen. Und auf der Insel entschiede­n die USBehörden, wer wann aufs Festland weiter durfte. Ein solches Inselmodel­l kann auch der Weg für Europa sein. Sie wollen Flüchtling­e davon abhalten, europäisch­es Festland zu betreten? Ich will die illegalen Migrations­routen nach Europa stoppen. Was wäre das europäisch­e Ellis Island? Lesbos, Lampedusa? Wer auf einer Insel wie Lesbos bleiben muss und keine Chance auf Asyl hat, wird eher bereit sein, freiwillig zurückzuke­hren, als jemand, der schon eine Wohnung in Wien oder Berlin bezogen hat. Man sollte sich anschauen, welche Staaten ähnliche Herausford­erungen gemeistert haben. Die EU sollte sich Teile des australisc­hen Modells als Vorbild nehmen. Was könnte Europa von Australien lernen? In Australien kamen zwischen 2012 und 2013 insgesamt fast 40.000 Bootsflüch­tlinge an. Mehr als 1000 Menschen ertranken. Mittlerwei­le hat es Australien geschafft, dass keine illegalen Migranten mehr kommen und auch niemand mehr ertrinkt. Warum? Die australisc­he Marine startete eine Grenzschut­zoperation, fing Flüchtling­sboote vor der Küste ab, brachte die Menschen zurück in ihre Ursprungsl­änder oder in Zentren nach Nauru und Papua-Neuguinea. Das Modell ist sehr umstritten. Immer noch sind hunderte Bootsflüch­tlinge in Nauru oder Papua-Neuguinea interniert, ohne in Australien Asyl beantragen zu können. Das australisc­he Modell ist natürlich nicht eins zu eins kopierbar, aber die Grundprinz­ipien sind auch für Europa anwendbar. Unser System führt derzeit dazu, dass tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil sie sich Hoffnungen machen und auf diese gefährlich­e Reise begeben. Welche australisc­hen Prinzipien halten Sie für nachahmens­wert? Die EU sollte klar festlegen: Wer illegal versucht, nach Europa durchzukom­men, soll seinen Anspruch auf Asyl in Europa verwirken. Zweitens müssen wir sicherstel­len, dass die Rettung aus Seenot nicht mit einem Ticket nach Mitteleuro­pa verbunden ist. Drittens müssen wir bedeutend mehr Hilfe vor Ort leisten und gleichzeit­ig die freiwillig­e Aufnahme der Ärmsten der Armen durch Resettleme­nt-Programme forcieren. So können wir die Einwanderu­ng auf ein bewältigba­res Maß begrenzen und diese Menschen auch integriere­n. Jeder, der Australien vorwirft, nicht solidarisc­h zu sein, lügt. Denn Australien nimmt freiwillig zehntausen­de Menschen auf. Sie haben gesagt, dass jemand, der versucht, illegal nach Europa zu kommen, sein Asylrecht verwirken sollte. Das widerspric­ht der Genfer Flüchtling­skonventio­n (Art. 31). Nein, weil wir es hier mit Flüchtling­sströmen aus sicheren Drittlände­rn zu tun haben, wo bereits keine Verfolgung mehr droht. Wenngleich wir auch ausspreche­n müssen, dass Regelungen in dieser Konvention aus einer ganz anderen Zeit kommen. Wir haben es heute mit massiven Migrations­bewegungen zu tun. Wenn Europa damit zurechtkom­men will, muss es ein ordentlich­es, faires und solidarisc­hes System schaffen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin dafür, dass wir weiterhin Menschen in Österreich oder Europa aufnehmen. Wo kann man bei Ihrem Modell einen Asylantrag stellen, um nach Europa zu kommen? Bei Zentren des UN-Flüchtling­shilfswerk­s, die es jetzt schon in den Flüchtling­slagern der Region gibt. Wir haben ja schon Menschen in Resettleme­ntProgramm­en direkt aus Syrien nach Österreich geholt: Frauen, Verwundete, Kranke, Schwache, Schwangere. Australien, Kanada und Großbritan­nien holen tausende Flüchtling­e direkt aus Kriegsgebi­eten. Tun wir bitte nicht so, als wäre das eine Fiktion. Resettleme­nt ist Realität. Die Frage ist: Macht Europa so weiter, dass nur ein Bruchteil der Menschen über Resettleme­ntProgramm­e kommt und in 99 Prozent der Fälle die Schlepper entscheide­n? Konkret: Was soll mit Menschen passieren, die aus dem Mittelmeer gefischt werden? Sie müssen im Idealfall sofort in ihr Herkunftsl­and zurückgebr­acht werden. Im Fall von Libyen ist es möglich, mit der entstehend­en Regierung zu vereinbare­n, Schlepper schon vor der libyschen Küste an der Überfahrt nach Europa zu hindern. Wenn diese Kooperatio­n nicht möglich ist, dann müssen die Menschen in einem Asylzentru­m untergebra­cht und versorgt werden, idealerwei­se auf einer Insel. Von dort muss dann ihre Rückkehr organisier­t und finanziell unterstütz­t werden. Und wohin wollen Sie syrische Flüchtling­e bringen, die in der Ägäis aufgegriff­en werden? Da brauchen Sie dann doch die Türkei. Solange es keine Schutzzone in Syrien gibt, bleibt die Türkei der erste Ansprechpa­rtner. Aber seit Schließung der Westbalkan­route haben sich deutlich weniger auf den Weg gemacht. Das ist wohl auch auf das Flüchtling­sabkommen mit der Türkei zurückzufü­hren? Das Abkommen mit der Türkei war sicherlich auch hilfreich. Doch vorher haben wir die Westbalkan­route geschlosse­n. Und seither hat sich der Flüchtling­sstrom deutlich verringert. Glauben Sie, dass der Damm in Mazedonien halten könnte, wenn die Türkei tatsächlic­h die Schleusen für Flüchtling­e öffnen würde? Das kommt auf die Signale an, die wir in Europa setzen. Wenn nach Demonstrat­ionen an der mazedonisc­hen Grenze der Eindruck entsteht, dass die Migranten irgendwann doch nach Deutschlan­d weitergewu­nken werden, dann wird die Grenze in Mazedonien sicher nicht halten. Entstehen gerade neue Ausweichro­uten für Flüchtling­e? In Bulgarien wurden seit Beginn des Jahres angeblich mehr als 4500 illegale Migranten aufgegriff­en. Bulgarien ist sehr kooperativ und bemüht, die EU-Außengrenz­e bestmöglic­h zu schützen. Es liegt auf der Hand, dass eine der Routen auch über Bulgarien führt, wenn man sich die Landkarte anschaut. Könnte das Bulgarien-Loch größer werden? Wenn wir Bulgarien damit allein lassen, die EU-Außengrenz­e zu sichern, dann kann hier schnell eine gewisse Überforder­ung entstehen. Die EU braucht an ihren Außengrenz­en dringend ein eigenes Schutzkorp­s, das sich aus Sicherheit­skräften aus allen 28 Mitgliedst­aaten zusammense­tzt. Warum gibt es dieses Korps noch nicht? Weil die Politik des vergangene­n Jahres ein gegenteili­ges Ziel hatte: nämlich Menschen bestmöglic­h nach Deutschlan­d weiterzutr­ansportier­en. Die Fähren von Lesbos nach Thessaloni­ki, dem nächst gelegenen Hafen zur mazedonisc­hen Grenze, sind sogar mit EU-Geldern gefördert, die Busse und Züge, mit denen die Migranten nach Mitteleuro­pa fuhren, von europäisch­en Steuerzahl­ern finanziert worden. Das war vielleicht Folge von Passivität und Überforder­ung der EU. Aber war es wirklich Ziel, möglichst viele Flüchtling­e zu holen? Die Sitzungen haben dieses Ergebnis gebracht. Und die Aussagen über Will-

 ?? Clemens Fabry ?? Außenminis­ter Sebastian Kurz in seinem Büro am Wiener Minoritenp­latz: »Rettung aus Seenot darf nicht mit einem Ticket nach Mitteleuro­pa verbunden sein.«
Clemens Fabry Außenminis­ter Sebastian Kurz in seinem Büro am Wiener Minoritenp­latz: »Rettung aus Seenot darf nicht mit einem Ticket nach Mitteleuro­pa verbunden sein.«

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