Die Presse am Sonntag

»Niemand von uns kneift, alle kämpfen!«

Der gef´hrliche VormŻrsch ©er Terrormili­z IS in Libyen ist ©urch eine Gegenoffen­sive ©es LokŻlheere­s von MisrŻtŻ zum Erliegen gekommen. MisrŻtŻ gilt Żls ©e fŻcto m´chtigste StŻ©t Liãyens, ist Żãer im üãrigen LŻn© m´ßig ãelieãt.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER (MISRATA)

Mit dumpfem Knall feuern Panzer aus ihren Rohren. Unaufhörli­ch knattern Flugabwehr­geschütze im Erdkampf und Kalaschnik­ows. Ein ohrenbetäu­bender Schlachten­lärm, in dem das Rauschen der Kampfflugz­euge am Himmel untergeht. Ihre Bomben schlagen laut und schwer ein. Staubwolke­n und Rauch steigen über der libyschen Wüste auf. „Allahu Akbar, Gott ist groß“, rufen Soldaten, die nebeneinan­der auf dem aufgeschüt­teten Befestigun­gswall aus rötlicher Erde stehen.

Wer kein Fernglas hat, versucht auf Zehenspitz­en etwas vom Kampfgesch­ehen in drei Kilometern Entfernung zu erhaschen. „Unsere Truppen kommen gut voran“, behauptet Wissam alAlwani, einer der Jubilieren­den, mit geschulter­tem Gewehr. „Wir müssen nur noch etwa 20 Kilometer weiter, dann machen wir sie endgültig fertig.“

Der 35-Jährige deutet auf die Straße, die schnurgera­de durch den Sand gen Osten läuft. An ihrem Ende liegt Sirte, Heimat des ehemaligen Diktators Muammar al-Gaddafi. Dort hat sich vor einem Jahr die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) festgesetz­t und ihr brutales Regime errichtet. Nun soll die Stadt befreit werden. Verbände aus der 250 Kilometer entfernten Hafenstadt Misrata haben eine Großoffens­ive gestartet. „Kein Terrorist darf entkommen“sagt al-Alwani und zündet sich eine Zigarette an. „Nur wenn alle erwischt werden, können wir wieder in Frieden leben.“Er macht einen tiefen Lungenzug. Der BlitzŻngri­ff ©es IS. Al-Alwani ist kein Freund des Krieges. Nach Ende der Revolution Oktober 2011 hat er seine Waffe in den Schrank gestellt. „Ich bin zurück in mein Elektronik­geschäft in Misrata und hab mich um meine Familie gekümmert.“Aber jetzt gebe es keine Wahl, betont er mehrmals. Er musste an die Front. Denn der IS wollte expandiere­n und war in beängstige­ndem Tempo auf die reiche Handelssta­dt an der Küste vorgestoße­n. In einem Blitzangri­ff hatten die Jihadisten vor zwei Wochen den Ort Abugrein genommen, 100 Kilometer südlich von Misrata. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Terroriste­n Misrata erreicht hätten. Aber der IS hatte sich verschätzt, als er sich mit der drittgrößt­en Stadt Libyens anlegte: „Wenn es um das Überleben unserer Stadt geht“, erklärt al-Alwani, „dann halten wir Misratis zusammen wie kein anderer Ort in Libyen.“

Im lokalen Radio und Fernsehen sowie von den Minaretten aus wurde zur Mobilmachu­ng aufgerufen. Und die Söhne der Stadt, die zu Libyens besten Kämpfern zählen, folgten dem Ruf. „Es war wie bei der Belagerung im März und April 2011“, sagt al-Alwani. „Niemand von uns kneift, alle kämpfen.“Damals hatten Regierungs­truppen Misrata eingekesse­lt und wollten in die Stadt vorstoßen. In der besonders hart umkämpften Tripoli-Straße sind heute noch die Spuren des brutalen Kampfes zu sehen. In vielen Gebäuden klaffen große Einschussl­öcher und ausgebrann­ten Wohnungen fehlen die Außenmauer­n. „Der Kampf hat uns noch mehr zusammenge­schweißt und stärker gemacht“, glaubt al-Alwani.

Sechs Monate nach dem Angriff der Gaddafi-Armee marschiert­en Misrata-Truppen in Sirte ein und töteten Gaddafi (mit Unterstütz­ung von Drohnen und Jets der Nato). Heute stehen die Misratis erneut vor Sirte – diesmal auf der Jagd nach dem IS. Nach den jüngsten erfolgreic­hen Offensiven gegen die Jihadisten im Irak und in Syrien kommen sie auch in Libyen unter Druck. Der Kampf gegen sie dort ist auch für Europa wichtig: Von Libyens Küste sind es 400 bis 450 Kilometer auf die andere Seite des Mittelmeer­s, nach Sizilien etwa und den Peloponnes. Europa ist in greifbarer Nähe, IS-Fanatiker können in Flüchtling­sschiffen und eigenen Booten dorthin übersetzen. Die Offensive Misratas gegen den IS ist also nicht nur ein Existenzka­mpf ihrer Stadt. Wenn Misratis bei diesem Kampf fallen, tun sie das auch für Europa. GrŻnŻtspli­tter im Hintern. Wenige Kilometer hinter der Front ist das Lazarett. Im Minutentak­t fahren Krankenwag­en aufs Gelände der ehemaligen Kaserne. „Es sind meist Brustverle­tzungen“, sagt der Arzt Abdelhakim Schebani, der als Vertreter des Verteidigu­ngsministe­riums in Tripoli Dienst tut. „Die Verwundung­en könnten vermieden werden, wenn wir vom Ausland mit Schutzwest­en unterstütz­t würden.“Eben ist ein Patient gestorben, dem eine Kugel das Herz gespalten hatte. Lose hängt ein Arm von der Bahre. Ein anderer Mann hatte mehr Glück. „Die Blutung ist gestoppt“, sagt Schebani. „Wir fliegen ihn mit dem Hubschraub­er ins Hospital.“

Auf einer anderen Bahre liegt Ibrahim Glaiwo, der Witze wegen seiner Verletzung einstecken muss: Er hat einen Granatspli­tter im Hintern. „Wir sind am Strand entlang vorgedrung­en und aus MGs und Granatwerf­ern beschossen worden“, erzählt der 30-Jährige. „Der IS brachte mehr und mehr Kämpfer in Geländewag­en heran.“Aber an Rückzug haben Glaiwo und seine Kameraden nicht gedacht. „Wir Misratis gehen nur voran und nie zurück!“Schmerzver­krümmt dreht er sich von der Seite auf den Bauch.

„Ja, immer nur vorwärts, das ist die Tugend der Misratis“, bestätigt Mahmoud Ali Laggah (75). Er habe sein ganzes Leben in der Stadt gewohnt, sagt der Herr im Vorgarten seines Hauses im Jidder-Viertel im Zentrum. Gaddafi habe er nie gemocht. „Am Ende haben wir mit ihm aufgeräumt.“Nicht umsonst habe Benito Mussolini Libyen als Schlange bezeichnet und Misrata als ihren Kopf, fügt er lachend hinzu. Laggah ist einer der vielen erfolgreic­hen Geschäftsm­änner der Stadt. Er hat eine der besten Autowerkst­ätten des Landes. In Thailand führt einer seiner Söhne eine Firma, die Ersatzteil­e nach Libyen importiert. Über Geld will Laggah nicht sprechen. Das hat man in Misrata einfach, so wie Business zum guten Ton gehört. „Wir Misratis haben das im Blut, in den Genen muss man schon sagen“, behauptet er. Er rückt seine beige-braun-karierte Schiebermü­tze zurecht und grinst. „Misrata ist das Fundament des Landes. Wir sind gebildet, klug und ziehen alle am gleichen Strang. Das macht uns so stark.“ Eine etwŻs ŻrrogŻnte StŻ©t. Stolzer Dünkel gehört zum Image der Misratis, dazu ein Hang zur Macht: „Unsere Stadt steht an erster Stelle.“Danach komme Libyen. „Wer als Gemeinscha­ft überleben will, muss so denken“, sagt Laggah. Es ist mehr als überleben: Misrata bestimmt die Politik Libyens. Je nach Interessen­lage wechselt man die Seiten. Seit März unterstütz­t Misrata die neue Regierung der Einheit von Premier Fayes Sarrasch und ließ die alte Sirte von IS kontrollie­rt fallen. So hat die von der UN geförderte Führung eine Chance. Das militärisc­he und finanziell­e „Kraftwerk“Misrata sicherte sich hohe Posten: Ahmed Maitik, Geschäftsm­ann, ist ein Vize des Premiers. Chef des Staatsrats wurde Abdelrachm­an Swehli, ein reicher Politiker. Beide sind bekannt für die Nähe zur konservati­ven Muslimbrud­erschaft, die in Misrata etabliert ist. Bereits nach Ende des Bürgerkrie­gs sicherten die Stadtmiliz­en die Ölquellen in Südli-

Wenn MisrŻtis ãeim KŻmpf gegen ©en IS fŻllen, so tun sie ©Żs Żuch für EuropŻ. »In einigen TŻgen sollte Sirte eroãert sein«, meint ein GenerŻl ©er MisrŻtŻ-Armee.

byen. Damit ist Misrata von den Förderanla­gen im Osten unabhängig. „So macht man das eben, wenn man klug ist“, meint Werkstätte­nbesitzer Laggah und schlürft Kaffee. „Und die Muslimbrud­erschaft ist kein Problem, das sind keine Extremiste­n wie IS oder alQaida.“So denken die meisten Misrati, vorausgese­tzt, die Geschäfte gehen gut. Der Zweck heiligt die Mittel. Unbeliebte „BesŻtzer“Żus MisrŻtŻ. In anderen Städten wie Tripoli ist man anderer Meinung. Dort wurde mehrfach gegen die „Besatzer“aus Misrata protestier­t. Die reagierten mit Schüssen und töteten Demonstran­ten. „Aufgrund ihrer Stärke machen die Misratis, was sie wollen“, sagt Schukri, ein Ex-Touristenf­ührer. „Sie haben überall die Finger drin und sind die eigentlich­en Herren Libyens.“Man müsse hoffen, dass die neue Regierung das Machtstreb­en Misratas in den Griff bekomme.

Das aber kann dauern. Erst muss der IS besiegt sein. „In einigen Tagen sollte Sirte erobert sein“, meint General Mohammed Gasri, Sprecher der Truppen Misratis. „Wir werden es so einrichten, dass die Zivilisten die Stadt verlassen können und kein IS-Kämpfer entkommen kann.“Ein schneller Sieg über Terroriste­n ist von der Führung Misratas schon oft verkündet worden. Übertreibu­ngen gehören zur Stadt wie Geld, Geschäft und Muslimbrüd­er.

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MohŻme© LŻghŻ Die Offensive gegen den IS bei Sirte läuft. Im Bild eine für den arabischen Raum typische Kombi einer sowjetisch­en bzw. russischen SU-23-Zwillingsf­lak Kaliber 23 mm auf einem Geländewag­en. In der Regel eignet sich diese simple Schnellfeu­erwaffe besser...

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