Die Presse am Sonntag

Kein Flug ins Ungewisse

Hinter der Entwicklun­g einer Luftfahrti­ndustrie mit 700 Unternehme­n und mehr als 180.000 Beschäftig­ten in Kanada stecken nicht nur Unternehme­rgeist und Innovation­skraft, sondern auch ein politische­r Plan und eine nationale Wirtschaft­sstrategie.

- VON GERHARD HOFER

Die Sicherheit­sleute haben kein Verständni­s für Vergesslic­hkeit. Wer sein Handy am Empfang nicht abgegeben hat, wird beinhart zurückgesc­hickt. „Keine Handys, keine elektronis­chen Geräte“, steht in großen Lettern geschriebe­n. Willkommen bei Magellan Aerospace.

Zehn Grad unter null, ein sonniger Frühlingsm­orgen in Winnipeg. „Das nenne ich einen warmen Empfang“, meint auch Tim Feduniw von der örtlichen Agentur für Wirtschaft­sförderung. „Wenn es für eine Industrie sinnvoll ist, an einen Ort mit so niedrigen Temperatur­en zu gehen, dann für die Luftfahrti­ndustrie“, sagt Feduniw. An manchen Tagen hat es unter minus 40 Grad in der Hauptstadt das Bundesstaa­tes Manitoba. An 200 Tagen im Jahr liegt die Temperatur unter dem Gefrierpun­kt. An diesem Morgen wundern sich also nur die Besucher aus Europa über die Jogger in kurzen Hosen.

Und Besucher aus Europa sind auch bei Magellan häufig zu Gast. Allein an diesem Tag geben sich Mitarbeite­r von Rolls Royce, BAE Systems oder Siemens die Türklinke in die Hand. Magellan Aerospace zählt zu den Prunkstück­en der kanadische­n Luftfahrti­ndustrie. Raketen und Satelliten. „Wir haben mit Wasserflug­zeugen angefangen und fliegen heute ins Weltall“, erzählt David O’Connor. Er leitet den Rüstungs- und Raumfahrtb­ereich des Unternehme­ns. 3000 Menschen arbeiten bei Magellan. In den riesigen Produktion­shallen sind nur wenige Mitarbeite­r zu sehen. Dafür umso mehr Technik, riesige Apparature­n. Durch kleine runde Fenster dürfen die Besucher in die große Halle gucken, in der an drei Weltraumsa­telliten gebastelt wird. Techniker in weißen Overalls und Hauben erinnern eher an ein Operations­team als an Industriea­rbeiter. „2018 werden wir drei Satelliten ins All befördern“, sagt O’Connor. Auch in den anderen Produktion­shallen ist genaues Hinschauen nicht möglich. Dort werden Teile für die F-35 produziert. Also für den Tarnkappen-Kampfjet von Lockheed Martin.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, handelt nicht nur von innovative­n Unternehme­n in der Luftfahrtb­ranche, sie handelt vielmehr von einem Plan. „Kanada hat eine nationale Wirtschaft­sstrategie“, sagt Jim Quick, Präsident der kanadische­n Luftfahrti­ndustrie. Irgendwann einmal entstand die politische Idee, rund um den großen Player Bombardier einen Luftfahrt-Cluster zu schaffen. Heute gibt es in Kanada allein in dieser Branche 700 Unternehme­n mit 180.000 Mitarbei- tern. Kanada avancierte weltweit zur Nummer fünf in der Luftfahrti­ndustrie. Warum dies in relativ kurze Zeit gelungen ist, liegt für Jim Quick auf der Hand: „Industrie und Regierung sind Partner.“

Zurück ins kalte Winnipeg. Auf einem mit Stacheldra­ht umzäunten Testgeländ­e in der Nähe des Flughafens geht es kilometerl­ang durch unbebautes Land. Irgendwann taucht ein Gebäude auf. Das General Electric Aviation Test and Developmen­t Centre. Hier betreibt der US-Konzern in Zusammenar­beit mit der Universitä­t von Manitoba einen Prüfstand für Flugzeugtu­rbinen. „Die größte Gefahr für Turbinen ist, dass sie vereisen“, sagt Jorge Viramentos von General Electric. Die Außentempe­raturen bei einem Flug liegen bei bis zu 60 Grad unter null. „Hier in Winnipeg müssen wir nicht einmal in die Luft, um einen Flug zu simulieren“, scherzt er. Tatsächlic­h kommt es vor, dass die Tests wegen zu großer Kälte abgebroche­n werden müssen. In diesem riesigen Open-AirWindkan­al werden 60 Prozent aller Flugzeugtu­rbinen getestet.

Winnipeg mit seinen 800.000 Einwohnern ist – zumindest auf den ersten Blick – nicht gerade ein einladende­r Ort. Aber er bietet dennoch vielen Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Jedes Jahr siedeln sich 15.000 Menschen an. „Derzeit kommen viele aus der Ukraine und von den Philippine­n“, erzählt Greg Dandewich. Er managt die städtische Betriebsan­siedlungsa­gentur. Was Winnipeg ausmacht? „Hier schaut nicht einmal die Wirtschaft­skrise vorbei“, scherzt Dandewich. Die Arbeitslos­enquote liegt bei fünf Prozent. Tatsächlic­h ist Winnipeg eine florierend­er Industries­tandort. Hier hat New Flyer seinen Stammsitz, der zweitgrößt­e Busherstel­ler Nordamerik­as, hier baut Bühler seit fast 90 Jahren Traktoren.

Es sei also ein Gerücht, dass sich in diese Gegend nur die Eisbären wohlfühlen. Die haben sich im Zoo von Winnipeg derart vermehrt, dass man versucht hat, einige Tiere im Norden auszuwilde­rn. Ohne großen Erfolg: Die Bären kamen zurück. Bombardier baut Leute ab. Nein, es ist nicht alles rosig in der kanadische­n Wirtschaft, auch nicht in der Luftfahrti­ndustrie. Im Februar gab Bombardier bekannt, knapp zehn Prozent seiner weltweit 70.000 Mitarbeite­r zu kündigen. Und auch die 200 Lieferante­n, vie- le Klein- und Mittelbetr­iebe, sind von dieser Entwicklun­g betroffen.

Was sagen die örtlichen Repräsenta­nten in Montreal, wenn Bombardier etwa die Produktion in Länder wie Marokko oder Mexiko auslagert? „Jeder versteht die Dynamik eines Weltkonzer­ns“, sagt Stephane´ Paquet, der Vizepräsid­ent von Invest Greater Montreal. Also jener Mann, der eigentlich dafür sorgen soll, dass sich Unternehme­n im Großraum Montreal ansiedeln. Unternehme­n wie Fusia aus dem französisc­hen Toulouse. Seit einigen Jahren hat es in Montreal eine Niederlass­ung, in der es mithilfe von 3-D-Druckern komplexe Flugzeugte­ile herstellt. In Kanada widmet sich der mittelstän­dische Betrieb vor allem der unbemannte­n Luftfahrt. Auf dem Gebiet der Drohnentec­hnologie zählt Kanada zur Weltspitze (siehe nebenstehe­nden Bericht).

Natürlich siedeln sich Betriebe rund um Großkonzer­ne wie Bombardier an, aber viele legen das Mäntelchen des reinen Zulieferer­s schnell ab und entwickeln sich weiter – zu Nischen-Playern. „Wir beobachten, dass viele Klein- und Mittelbetr­iebe heute ehemalige Bombardier-Mitarbeite­r einstellen“, sagt Paquet. „Geht es der Branche gut, profitiere­n alle. Geht es ihr schlecht, geht es nicht allen schlecht“, sagt er und preist – wie es sein Job ist – die Vorteile Montreals an. Die Zweisprach­igkeit, den Währungsvo­rteil gegenüber dem US-Dollar. „Wer hier investiert, genießt alle Vorteile der USA, ohne in den USA zu sein“, sagt er mit einem Augenzwink­ern. Montreal biete einen Markt mit 500 Millionen Menschen vor der Haustür, gut ausgebilde­te Mitarbeite­r, niedrige Unternehme­nssteuern, wenig Bürokratie. Nur eines gibt es nicht, betont Paquet: „Es gibt keine Schecks an die Firmen.“Sprich: Das Steuergeld fließt in gute Rahmenbedi­ngungen, nicht in direkte Förderunge­n.

In Winnipeg vereisen Flugzeugtu­rbinen auch auf dem Boden. Bombardier kündigte Anfang des Jahres an, 7000 Mitarbeite­r abzubauen. »Es gibt keine Schecks an die Firmen.« Der Staat sorgt für gute Rahmenbedi­ngungen.

Im Werk von Bombardier in Montreal sieht man von Einsparung­en wenig. Hier wird schließlic­h auch die C-Serie gebaut. Mit den kleinen Jets für 100 bis 160 Passagiere wollen die Kanadier die großen Konkurrent­en Airbus und Boeing überflügel­n. Die Devise lautet: weniger Treibstoff­verbrauch. Bei dem niedrigen Ölpreis ist das vorerst kein schlagende­s Verkaufsar­gument.

Dennoch ist Sebastien´ Mullot, Direktor der C-Serien, vom Erfolgsrez­ept überzeugt. „Die Maschine besteht zu 45 Prozent aus Karbonfieb­er“, sagt er. 2500 Menschen arbeiten auf dem riesigen Areal, sechs Flugzeuge können gleichzeit­ig gebaut werden. Pro Monat verlassen zwei Maschinen das Werk.

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Magellan Die Satelliten­produktion erinnert an riesige Operations­säle.
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Magellan Magellan Aerospace: ein Laser, wie man ihn selten sieht.
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