Keine Kernspaltung mehr
20 Autominuten nördlich von Fukushimas Kraftwerksruine will eine Stadt ohne Atomstrom leben. Minamisoma ist Vorreiter, andere Orte könnten folgen. Auch fünf Jahre nach der Katastrophe sind die meisten Japaner gegen Atomkraft.
Keiichi Sato ist wieder stolz darauf, aus Minamisoma zu kommen. An die Katastrophentage von vor fünf Jahren erinnert sich der Feuerwehrmann noch genau, er war ja im Dienst: „Alles stand unter Wasser. Ich sah Autos und Häuser an mir vorbeischwimmen, die Telefonnetze waren zusammengebrochen. Dann hörten wie noch von der Kernschmelze. Die Hölle kam erst noch auf uns zu.“In den Wochen danach verwandelte sich der Name seiner Heimatregion Fukushima, in der die Stadt Minamisoma liegt, zu einem Synonym für Tragödie, Angst und Gefahr. Die japanischen Schriftzeichen Fukushimas stehen eigentlich für „glückliche Insel“. „Das trifft auf uns leider nicht mehr zu“, sagt Keiichi Sato.
Im Aufenthaltsraum der Feuerwache dieser 60.000-Einwohner-Stadt blättert er durch die Zeitung, jeden Tag werden aktuelle Strahlungswerte abgedruckt. Nach den Evakuierungen sind die meisten Gebiete von Minamisoma zwar heute wieder bewohnt. Aber erhöht sind die Werte hier trotzdem, der Ruf des Strahlendorfs ist geblieben. „Deshalb ist es richtig“, sagt Keiichi Sato, „dass wir diesen Neuanfang beschlossen haben.“Auch darüber schreibt die Lokalzeitung täglich: Minamisoma ist Japans erste Stadt, die nach der Katastrophe von 2011 offiziell beschlossen hat, ohne Atomenergie zu leben. Egal, was die Stromversorger, die in Japan gleichzeitig Atomkraftwerksbetreiber sind, ihnen anbieten. „Wir müssen neue Wege des Zusammenlebens und der Versorgung finden“, verkündete Bürgermeister Katsunobu Sakurai vor einem Jahr. Die Ansage war so medienwirksam, dass es kein Zurück gibt.
Minamisoma liegt 25 Kilometer nördlich der Atomkraftwerksruine Fukushima-Daiichi. Früher hing ein Großteil der Arbeitsplätze von der Nuklearenergie ab, ein anderer von der heute vielerorts in Brachland verwandelten Landwirtschaft. Sollten andere Städte dem Beispiel Minamisomas folgen, wird der Küstenort auch zur Blaupause, wie man eine lokale Ökonomie völlig umkrempelt – vom Arbeitsmarkt bis zur Energieversorgung. Erste Veränderungen sind schon zu sehen. Auf diversen Häusern der Stadt prangen heute Solarpanels, pro 30 Haushalte wurden Schaltzentralen gebaut, die nicht nur zur Zusammenführung und Verteilung der eingefangenen Solarenergie dienen, sondern auch als Portal für das Teilen diverser Güter. Energieverbrauch reduzieren. „Wir müssen auf allen Wegen unseren Energieverbrauch reduzieren“, wird der Bürgermeister nicht müde, über alle Kanäle zu verkünden. Durch ein verstärktes Verbraucherbewusstsein und das Teilen von Energieschluckern wie Autos kann das teilweise gelingen. Auch durch moderne Häuser, die an den Stellen der Zerstörung reihenweise gebaut wurden. Minamisomas Entwicklungen zeigen in die erwünschte Richtung, auch wenn der Übergang zur atomfreien Versorgung noch gut vier Jahre dauern wird. Wirtschaftlich will die Stadt, die noch immer nicht annähernd ihr Produktionsniveau von vor fünf Jahren erreicht hat, auf den Handel und eine Wiederbelebung der Landwirtschaft setzen. Keiichi Sato, der in seinem Garten seit Kurzem wieder Gemüse anbaut, findet das richtig. „Wenn ganz Japan sieht, dass das alles ausgerechnet hier möglich ist, dann geht es überall.“Eine Stadt wird vom Geknechteten zum Pionier.
Vor fünf Jahren bebte hier zuerst die Erde mit einer Stärke von 9,0, dann überschwemmte ein Tsunami mit bis zu 20 Meter hohen Wellen die Nordostküste. Als wäre das nicht genug gewesen, havarierte auch noch das durchnässte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, wo es in drei von sechs Re- aktoren zu Kernschmelzen kam. Die Bilanz dieser dreifachen Katastrophe ist verheerend. 20.000 Menschen starben landesweit durch Erdbeben und Tsunami, 300.000 Menschen mussten evakuiert werden. Noch heute leben 100.000 Menschen fern ihrer Heimat, ein Zehntel von ihnen kommt aus Minamisoma.
In einigen Ländern sorgte der GAU für einen politischen Kurswechsel. Deutschland schaltete Tage nach den Kernschmelzen von Fukushima die ältesten Reaktoren ab, im Juni 2011 wurde der schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Die Schweiz entschied sich für ein Ende der Kernspaltungen. In Italien sorgte eine Volksabstimmung dafür, dass eine geplante Rückkehr zur Atomkraft nicht durchgeführt wurde. Auch die japanische Regierung kündigte 2011 einen Ausstieg an. Doch wurde der Schritt im politischen Chaos der Katastrophe schnell wieder zurückgenommen.
Seit Sommer 2015 gingen wieder drei japanische Atomkraftwerke ans Netz.
Durch Premierminister Shinzo Abe, der Ende 2012 ins Amt gewählt wurde, fuhren nach drei Jahren Stilllegung im Sommer 2015 die ersten zwei Reaktoren wieder hoch. Anfang dieses Jahres folgte der dritte. Obwohl sich die Mehrheit der Japaner gegen die Atomkraft ausgesprochen hat, ist Japan heute weit von einem Atomausstieg entfernt. „Dabei brauchen wir die Atomkraft gar nicht“, sagt Hironao Matsubara. Der Mann im dunkelblauen Anzug, Mitarbeiter des Instituts für Nachhaltige Energiepolitik (ISEP), sitzt in einem Büro in Yokohama, einer Hafenmetropole südlich von Fukushima.
Premierminister Abe argumentiert mit Versorgungssicherheit und dem billigeren Strom. „Beide Argumente zählen nicht“, hält Matsubara dagegen. „Wer den unwahrscheinlichen, aber unermesslich teuren Fall eines Nukleardesasters in die Gleichung nimmt,