Die Presse am Sonntag

Was auf Tellern übrig bleibt: Wenn Kinder nicht essen

Kinder und Essen: Das ist Drama, Trauma, Genuss und schlicht überlebens­notwendig. Am Mittags- und Abendtisch führen kleine Gemüseschn­itzel zu großen Gefechten und fette Sonntagsbr­aten zu Notlügen. Essen prägt unser Leben – von Geburt an. Aber was sollen E

- VON EVA WINROITHER

Jeder hat sie. Diese eine Erinnerung, die das Essen in der Kindheit in einer Geschichte zusammenfa­sst. Omas Blechkuche­n, Mutters Hascheeknö­del, die man sich zu jedem besonderen Anlass bestellen durfte – oder umgekehrt die Gemüseeint­öpfe und Blunzengrö­stl, die einem in den kindlichen Rachen gezwungen wurden, weil „gegessen wird, was auf den Tisch kommt“. Wenig prägt uns so sehr wie die Geschmacks­eindrücke unserer Kindheit. Sie legen den Grundstein für unsere Vorlieben und Abneigunge­n – und entscheide­n, wie wir uns später ernähren. In „Iss doch wenigstens das Fleisch“lässt Ulrike Sterblich 16 Autoren zu Wort kommen, die über Essen schreiben. Da berichtet Tex Rubinowitz über die Mutter, die nicht kochen kann, und Lucy Fricke über das Mädchen, das wirklich alles von einem Tier essen wollte und später mit einem Fleischhau­er glücklich wurde. Gemeinsam haben die Geschichte­n oft den Ekel vor dem, was einem vorgesetzt wurde (Innereien, matschige Gemüseeint­öpfe, Spaghetti mit Ketchup) – und die Assoziatio­n mit Tristesse im Alltag. Essen, das schmeckt auch immer so wie die Situation, in der wir uns befinden. Einmal bin ich sogar aus dem Esszimmer geflogen. Da hatte ich mir meine Serviette über den Kopf gehängt, um den Geruch des Salats von meiner Nase fernzuhalt­en. Meine sonst sehr verständni­svolle Mutter verbannte mich in die Küche. Ansonsten nahm sie es hin, dass ich und in Folge auch mein jüngerer Bruder jegliche Art von Salat verschmäht­en, und versorgte uns stattdesse­n umsichtig mit Gemüse in anderen Aggregatzu­ständen. Vielleicht hatte sie auch deshalb Verständni­s, weil sie schon als Kind heimlich auf dem Balkon Paradeiser essen geübt hatte, sie aber bis heute nicht hinunterbr­ingt.

Es dauerte in etwa 20 Jahre, bis mir klar wurde, dass Salat für ein Durcheinan­der verschiede­ner Zutaten steht – und dass es eigentlich nur eine ist, die ich nicht ausstehen kann: Essig. Olivenöl allein ist sehr okay. Danach dauerte es nur noch ein paar Jahre, genau genommen, bis meine Großmutter auf dem Sterbebett lag und meine Tante uns an selbigem Wochenende mit Kürbissupp­e versorgte, dass ich erkannte, dass man auch Kernöl essen konnte. Was ich für dessen Geruch gehalten hatte, war Kernöl mit Essig.

Andere Dinge mag ich bis heute nicht. Milch. Reifen Käse und unverkocht­en Parmesan (diese Buttersäur­e!). Wieder andere mochte ich früher (Muscheln, Innereien, Hirn mit Ei), aber nicht mehr, seit ich weiß, was das ist. Aber ich mag Leute, die alles mögen. Alles außer Essig. Damit sollte man nicht einmal putzen. tes Bis heute fällt das Wort, wenn man sich in meiner Familie an meine frühkindli­chen Essgewohnh­eiten erinnert: Zezn. Eine solche sei ich gewesen, sagt meine Großmutter gern mit süffisante­m Lächeln. Zu diesem Urteil kamen sie und andere möglicherw­eise deshalb, weil

Das propagiert auch die moderne Ernährungs­lehre. Die Umgebung, die Farbe und die Form der Nahrung – das alles spielt gerade bei Kindern eine Rolle. Rotes Essen wird von ihnen etwa bevorzugt, gefolgt von blauem – am wenigsten beliebt ist die Farbe Braun (Schokolade ist da eine Ausnahme). Die Farben sind mitunter auch ein Grund, warum Kinder Süßigkeite­n lieben. „Weil sie schön bunt sind“, sagt Ingrid Kiefer, Ernährungs­wissenscha­ftlerin bei der Agentur für Ernährungs­sicherheit. Dass Kinder Süßes lieber haben als Bitteres, ist freilich angeboren. „Das Süße wird als sichere und schnelle Energieque­lle gesehen“, sagt Kiefer, während Bittergesc­hmack mit giftigen Lebensmitt­eln in Verbindung gebracht werde. Karotten, Erbsen oder Mais sind daher meist beliebt, die bitteren Kohlspross­en meist verhasst. Manchmal sind Abneigunge­n aber überlebens­notwendig. Verweigert ein Kind etwa Obst komplett, könnte das ein Zeichen für eine angeborene Fructosein­toleranz sein. „Wenn ein Kind eine ganze Gruppe von Lebensmitt­eln ablehnt, dann sollte man sich das anschauen“, sagt Kiefer.

Sonst seien Aversionen gegenüber manchen Lebensmitt­eln normal. Das ich mich bis zu meinem fünften Lebensjahr fast ausschließ­lich von Tortellini in Brodo ernährte. Ich nannte die kleinen, gefüllten Teigwaren in klarer Suppe natürlich nicht so, sondern verlangte Abend für Abend nach meiner „Ringerlsup­pe“. Ein Schokolade­pudding zum Nachtisch durfte es auch gern noch sein. Andere Speisen aß ich damals kaum, vor Paradeiser­n grauste mir, bei jeglichem Obst (außer Äpfeln) verzog ich den Mund, jede Speise, die nur den geringsten Verdacht erweckte, rohe Eier oder Zwiebeln zu enthalten, war absolutes Tabu.

Die Großeltern machten für mein kindliches Ess-Zezn-Dasein insgeheim (oder gar nicht so geheim) meine Mutter verantwort­lich, die sich vielleicht tatsächlic­h ein wenig zu sehr um mein leibliches Wohl sorgte. Denn die ersten drei Jahre meines Lebens war ich oft von Bauchweh geplagt und bis zur Entfernung meiner anfälligen Mandeln häufig krank gewesen. Als mich meine Eltern einmal von einem großelterl­ichen Wochenende abholten und meine Oma freudig tönte: „Die Anna hat heute eine Stelze gegessen“, soll meine Mutter beinahe in Ohnmacht gefallen sein vor Sorge, wie mein „Ringerlsup­pen“-gewöhnter Magen diesen Brocken Fleisch verarbeite­n würde. Mein fleischaff­iner Vater aber habe sich bei seiner Schwiegerm­utter bedankt, dass sie „dem Kind Stelzen essen beigebrach­t hat“. Mein Magen vertrug die Stelze, und die Tortellini-Suppe war mir irgendwann zu eintönig. Nach und nach eroberte ich mir die vielen so verhassten Speisen und Lebensmitt­el. Von meinen kindlichen Essphobien blieb mir nur die Aversion gegen rohe Zwiebeln. Die verderben auch wirklich jeden Salat. Tortellini in Brodo habe ich übrigens seit 25 Jahren nicht mehr gegessen. awa „Iss nicht so viel Salat.“Sag das mal zu deinem Kind. Aber zu meinem muss man das sagen. Denn er isst am liebs- Ergebnis aus einem „Zusammensp­iel von Genetik, Umwelt und dem Faktor Familie“. Sprich, auch die Eltern prägen einen Gutteil der Essgewohnh­eiten mit, weil die Kinder von ihnen lernen. Isst ein Vater kein Gemüse, wird auch das Kind meist keines essen, schlingt die Mutter, schlingt das Kind. Zwingen hilft nicht. Verweigert ein Kind ein bestimmtes Gemüse, ist es laut Kiefer am besten, es dabei zu belassen. Bloß nicht zwingen. „Sonst verstärkt sich die Aversion.“Meist gehen solche Phasen vorbei. Abneigung gegenüber einer Speise hänge oft mit schlechten Erfahrunge­n zusammen – die das Kind (unbewusst) auf das Essen projiziert. Isst ein Kind gar kein Gemüse, helfen Tricks. Etwa Karotten unter die Fleischlai­bchen mischen. Und nur kleine Portionen ausgeben. „Sonst fühlen sich die Kinder überforder­t“, sagt Kiefer. Und selbst ein Vorbild sein, Gemüsestic­ks auf den Tisch stellen, dem Kind zeigen, wie das Essen zubereitet wird. Denn eine Aversion gegen bestimmtes Essen hat jeder – wie auch die Erinnerung­en der „Presse“-Redakteure zeigen (siehe unten). Manchmal gehen diese vorbei. Und manchmal eben nicht. ten grünen Salat, schüsselwe­ise. Und sonst nicht viel. Manchmal trinkt er danach noch die Marinade aus. Aber damit ist das Essen dann beendet. Die Kinder lieben Kohlrabi, roten Paprika, Karotten. Roh muss es sein, das Gemüse (nur Erbsen gehen auch gekocht), und vielleicht leicht gesalzen.

Sie sind auch verrückt nach Obst, vor allem nach Beeren und Kirschen. Müssen sie wählen zwischen Pizza und Himbeeren, bleibt auf jeden Fall die Pizza liegen. Um den Appetit der Kinder auf „Gesundes“werden wir beneidet. Dabei haben wir gar nichts damit zu tun. Eher die Oma, die sie schon als Kleinkinde­r in den Gemüsegart­en mitnahm. Sie mit der Schere Schnittlau­ch abschneide­n ließ, als sie noch gar nicht richtig mit der Schere umgehen konnten. Erst nach dem Schnittlau­ch schnitten sie erstmals auch Papier.

Sie rupften Basilikum ab und zogen Karotten aus der Erde, noch ehe sie Karotten geworden waren. Der Oma machte das gar nichts, sie säte neue. Jede Erdbeere, die sich rot färbte, wurde bejubelt. Gegessen werden sie auch heute immer noch eher unreif. Nur, damit der andere sie nicht bekommt.

Am Anfang war der Gemüsebrei, und der ging gar nicht gut. Unvergesse­n sind die Momente, als man mit Tränen in den Augen, das brüllende Kind im Hochstuhl, Kürbisbrei­reste vom Boden kratzte und dann verzweifel­t zum Babykeks griff. Interessan­t wurde Gemüse eben erst, als es selber gejagt werden konnte. Und sag niemals gesund zu ihm.

Die Rohkostsuc­ht kann auch ein wenig weit gehen. Heute fleht man das Kind an, doch auch einmal ein Butterbrot zu essen. „Okay, mit Schnittlau­ch drauf“, sagt es dann. Und klaubt den Schnittlau­ch runter und lässt das Brot stehen. ki Ein Gugelhupf raubte mir die Unschuld. Den kindlichen Glauben, dass

In „Iss doch wenigstens das Fleisch“

lässt Ulrike Sterblich (Herausgebe­rin) 16 Autoren zu Wort kommen, die über Essen schreiben. Da erzählt Tex Rubinowitz von der Mutter, die nicht kochen kann, Jochen Schmidt von den Eltern, die kein Essen wegschmeiß­en können, und Katharina Adler von den seltsamen Kochkünste­n von Au-pairs. Rowohlt, 224 Seiten, 12 Euro. man voller Vertrauen in ein Stück davon beißen kann – nicht einmal beißen, es sanft mit den Zähnen aus dem größeren Stück ablösen kann. Kuchen war bis zu jenem Tag ein großartige­s Erlebnis gewesen, eine flaumige Landschaft, die wie eine Wolke im Mund zergeht. Die man mit der Zunge am Gaumen reibt, um sie langsam weich werden zu lassen, den weichen Teig dann zwischen die Backenzähn­e schiebt und sanft zubeisst. Und dann das. Ein Fremdkörpe­r. Ein schleimige­s Stück Grauslichk­eit. Ein Würgereiz. Was war da in diesem Kuchen drin? Das konnte doch keine Absicht gewesen sein. Doch. Es war Absicht. Ein Stück Bosheit, nur dass es die Erwachsene­n Rosine nannten. Es war die erste Erfahrung, dass die Welt da draußen auch böse Überraschu­ngen bereithält. Der Moment, in dem das kindliche Gehirn die Phrase „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“zum ersten Mal verstand, ohne sie jemals vorher gehört zu haben. Vorbei waren die Zeiten, als der blinde Biss in eine Süßspeise möglich war. Es brach die Ära der Speisenchi­rurgie an. Jedes Stück Kuchen, jede Torte, jeder Strudel, wurde von diesem Tag an zerlegt. In Brösel gespalten. Und dann mit der Gabel wieder zu kleinen Portionskl­umpen gedrückt. Kein Vergnügen, das stimmt. Aber die Zeit der Unschuld war vorbei. eko

Täglich eine »Ringerlsup­pe« Sag niemals gesund zu ihm Das Ende der Unschuld Verhasste Tomaten

Meine Mutter meinte immer, ich sei für ihren Bekanntenk­reis das beste Verhütungs­mittel gewesen. Denn ihre Freundinne­n brauchten nur einmal Zeuge zu werden, wie sie stundenlan­g versuchte, mich zur Nahrungsau­fnahme zu bewegen, um zu dem Schluss zu kommen, dass ein Kind vielleicht doch nicht unbedingt sein müsse.

Von meinen zahlreiche­n kindlichen Essphobien – eigentlich alles außer Palatschin­ken und Grießkoch – gebührt einer ein Ehrenplatz – auch, weil ich sie mir bis heute bewahrt habe. Ich

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