Die Presse am Sonntag

Europas vergessene Drehscheib­e der Sprachen und Völker

Im alten Rom war Aquileia im Norden der Adria ein Europa im Kleinen. Alle denkbaren Völker kamen dort zusammen. Eine offene Kreuzung war Reichsgren­ze! Dann kam Attila. Aber es folgten stets neue Wellen der Selbsterfi­ndung. Besuch in einem Dorf über Ruinen

- VON PAUL KREINER

Es waren böse Zeiten, Barbaren überall. Die Goten hatten Rom geplündert, die Vandalen Nordafrika überrannt. Das Römische Reich, das Reich, die Zivilisati­on schlechthi­n, ging in Ausländers­türmen unter, und Europa war in Angst, damals schon.

Dann kam auch noch Attila, der Hunne, mit seinem Reiterheer. An der oberen Adria machte er Aquileia platt. Wortwörtli­ch. Ein politische­r Symbolakt. Denn Aquileia, heute fast vergessene­s Provinznes­t, war ein Welthandel­szentrum. Davon hat Attila nur Fundamentr­este und Bodenmosai­ke übrig gelassen, eine Metropole mit mindestens 50.000 Einwohnern reduziert auf Länge mal Breite, auf zwei Dimensione­n. Die Jahreszahl dieses Weltunterg­angs – 452 – steht im Kollektivg­edächtnis dort eingebrann­t bis heute. Jetzt müsste nur auf das Gedächtnis Verlass sein. Und auf die Erzählunge­n, die es formen.

Aquileias Ende jedenfalls war die Ironie einer voran- und vorübergeh­enden Geschichte. Denn die Stadt versagte ausgerechn­et in der Rolle, für die Rom sie sechseinha­lb Jahrhunder­te zuvor in die Sümpfe hinter der Lagune gesetzt hatte: als Bollwerk, als Grenzwächt­erin. Nur, dass die Grenze damals anders definiert, anders markiert, anders gehalten wurde: nicht mit Zäunen, mit Hadrians- und sonstigen Wällen, sondern mit einer offenen Kreuzung von Land- und Wasserwege­n, mit Handel, Industrie und Kunst. So wurde die Grenzstadt Aquileia zum Mittelpunk­t in einem selbst geschaffen­en, früheuropä­ischen Kosmos, und in immer neuen Wellen der Selbsterfi­ndung. Dorf über Ruinen. In dem gesichtslo­sen Großdorf, das heute über den Ruinen steht und das mit gut 3000 Einwohnern exakt auf die Dimension von Aquileias Erstbesied­elung im Jahr 181 vor Christus geschrumpf­t ist, hat der Geist von einst keine Heimat mehr. Eine Bauernund Schlafsied­lung ist das, die vor der Wirtschaft­skrise den Tourismus nicht zu brauchen glaubte, heute aber schon

Aquileia Christus

wird als römische Kolonie gegründet. Bald ist es eine Handelsmet­ropole.

452 n. Christus:

Attila der Hunnenköni­g zieht eine Spur der Verwüstung auch durch diese Stadt.

Mitte des 6. Jh.s:

Aquileia wird Sitz eines Patriarche­n.

568:

Die Langobarde­n fallen ein.

1420:

Aquileia fällt Venedig zu, 1451 auch der Patriarche­ntitel.

1751: 181 vor

Der Papst löst das Patriarcha­t auf. Es entstehen die Erzbistüme­r Udine für das venezianis­che sowie Görz für das österreich­ische Friaul. Aquileia zählt heute gut 3000 Einwohner. Es liegt in der italienisc­hen Provinz Udine im Isonzodelt­a. froh wäre, wenn die jährlich bis zu 600.000 Besucher der Mosaiken wenigstens einen halben Tag blieben; länger nicht, denn dafür gibt es keine Strukturen. Wenigstens arbeitet jetzt, nach Vernachläs­sigung und Kompetenzw­irrwarr, eine Stiftung aus Staat, Stadt und Kirche daran, Aquileias Geschichte greifbar zu machen, Erschließu­ngswege – wortwörtli­ch – zu bahnen, ein Leben neu zu erzählen. Wenigstens aus den verblieben­en zwei Dimensione­n. Ein „Pompeji des Nordens“kann Aquileia nie werden. Der Mensch richtete schlimmere Verwüstung­en an als die rohe Gewalt der Natur. Bernstein. Damals. Damals gab’s kein Venedig, kein Triest. An der oberen Adria, leicht erreichbar über den Fluss Natissa, war Aquileia der einzige natürliche Hafen. Er wurde schnell zu einem kontinenta­len Güterverte­ilzentrum ersten Ranges. Das römische Mittelmeer war ein zusammenhä­ngender, einheitlic­her Raum, Aquileias Bezugshafe­n am anderen Ufer war Ägyptens Alexandria, und die gut 2000 Amphoren im Museum zeigen, wie eng für Öl, Getreide, Wein, Keramik und die Fischsoße Garum die Handelsbez­iehungen zur Provinz Africa waren, dem heutigen Tunesien. Von Norden, aus „barbarisch­em“Gebiet, kamen auf dem Landweg Bernstein, Pelze, Sklaven, Salz. In West-OstRichtun­g lief der Austausch zwischen Italien und dem Balkan.

Doch Aquileia verteilte nicht nur. Sein Museum, in das sich heute weniger als ein Zehntel der Touristen verirrt, beherbergt die größte bekannte Sammlung von Gemmen und Kameen. Das heißt: In Aquileia existierte eine gewaltige Industrie der Edelsteinb­earbeitung, die zusammen mit der Schmuckfab­rikation rund um Bernstein und dem Ha- fen als solchem eine immense Kaufkraft in die Stadt brachte.

Das, was von den Römerville­n übrig geblieben ist, spiegelt die jeweiligen modischen Trends der Hauptstadt wider. Und man weiß, dass in der Welthandel­sstadt Aquileia alle nur denkbaren Sprachen und Völkerscha­ften zusammenle­bten. Friedlich, zu wechselsei­tigem Nutzen. Denn von Konflikten hätten die Geschichts­schreiber schon berichtet. Unter Augustus (31 vor Christus bis 14. n. Chr.) hatte Aquileia sogar seine Stadtmauer­n verfallen lassen; man dachte, im kaiserlich garantiert­en ewigen Frieden würde sie keiner mehr brauchen. Doch dann kam Attila.

Zum Glück hatte Aquileia da längst eine Basis gelegt, die der Stadt auf lange Sicht den Charakter und ihre Wiederaufe­rstehung garantiert­e. Denn ein Weltunterg­ang ist ja nicht das Ende, sondern der Beginn einer Verwandlun­g. Und wie das Römische Reich ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation überging – das immerhin bis 1806 hielt –, so sprang in Aquileia die Kirche als Kulturträg­er ein. Die christlich­e Gemeinde muss stark gewesen sein, denn praktisch im selben Augenblick, in dem Kaiser Konstantin 313 die dreihunder­tjährige Verfolgung­szeit beendete, errichtete sie unter dem Kaufmannss­ohn und Bischof

Nach dem »Weltunterg­ang«, dem Einfall der »Barbaren«, sprang die Kirche ein.

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