Europas vergessene Drehscheibe der Sprachen und Völker
Im alten Rom war Aquileia im Norden der Adria ein Europa im Kleinen. Alle denkbaren Völker kamen dort zusammen. Eine offene Kreuzung war Reichsgrenze! Dann kam Attila. Aber es folgten stets neue Wellen der Selbsterfindung. Besuch in einem Dorf über Ruinen
Es waren böse Zeiten, Barbaren überall. Die Goten hatten Rom geplündert, die Vandalen Nordafrika überrannt. Das Römische Reich, das Reich, die Zivilisation schlechthin, ging in Ausländerstürmen unter, und Europa war in Angst, damals schon.
Dann kam auch noch Attila, der Hunne, mit seinem Reiterheer. An der oberen Adria machte er Aquileia platt. Wortwörtlich. Ein politischer Symbolakt. Denn Aquileia, heute fast vergessenes Provinznest, war ein Welthandelszentrum. Davon hat Attila nur Fundamentreste und Bodenmosaike übrig gelassen, eine Metropole mit mindestens 50.000 Einwohnern reduziert auf Länge mal Breite, auf zwei Dimensionen. Die Jahreszahl dieses Weltuntergangs – 452 – steht im Kollektivgedächtnis dort eingebrannt bis heute. Jetzt müsste nur auf das Gedächtnis Verlass sein. Und auf die Erzählungen, die es formen.
Aquileias Ende jedenfalls war die Ironie einer voran- und vorübergehenden Geschichte. Denn die Stadt versagte ausgerechnet in der Rolle, für die Rom sie sechseinhalb Jahrhunderte zuvor in die Sümpfe hinter der Lagune gesetzt hatte: als Bollwerk, als Grenzwächterin. Nur, dass die Grenze damals anders definiert, anders markiert, anders gehalten wurde: nicht mit Zäunen, mit Hadrians- und sonstigen Wällen, sondern mit einer offenen Kreuzung von Land- und Wasserwegen, mit Handel, Industrie und Kunst. So wurde die Grenzstadt Aquileia zum Mittelpunkt in einem selbst geschaffenen, früheuropäischen Kosmos, und in immer neuen Wellen der Selbsterfindung. Dorf über Ruinen. In dem gesichtslosen Großdorf, das heute über den Ruinen steht und das mit gut 3000 Einwohnern exakt auf die Dimension von Aquileias Erstbesiedelung im Jahr 181 vor Christus geschrumpft ist, hat der Geist von einst keine Heimat mehr. Eine Bauernund Schlafsiedlung ist das, die vor der Wirtschaftskrise den Tourismus nicht zu brauchen glaubte, heute aber schon
Aquileia Christus
wird als römische Kolonie gegründet. Bald ist es eine Handelsmetropole.
452 n. Christus:
Attila der Hunnenkönig zieht eine Spur der Verwüstung auch durch diese Stadt.
Mitte des 6. Jh.s:
Aquileia wird Sitz eines Patriarchen.
568:
Die Langobarden fallen ein.
1420:
Aquileia fällt Venedig zu, 1451 auch der Patriarchentitel.
1751: 181 vor
Der Papst löst das Patriarchat auf. Es entstehen die Erzbistümer Udine für das venezianische sowie Görz für das österreichische Friaul. Aquileia zählt heute gut 3000 Einwohner. Es liegt in der italienischen Provinz Udine im Isonzodelta. froh wäre, wenn die jährlich bis zu 600.000 Besucher der Mosaiken wenigstens einen halben Tag blieben; länger nicht, denn dafür gibt es keine Strukturen. Wenigstens arbeitet jetzt, nach Vernachlässigung und Kompetenzwirrwarr, eine Stiftung aus Staat, Stadt und Kirche daran, Aquileias Geschichte greifbar zu machen, Erschließungswege – wortwörtlich – zu bahnen, ein Leben neu zu erzählen. Wenigstens aus den verbliebenen zwei Dimensionen. Ein „Pompeji des Nordens“kann Aquileia nie werden. Der Mensch richtete schlimmere Verwüstungen an als die rohe Gewalt der Natur. Bernstein. Damals. Damals gab’s kein Venedig, kein Triest. An der oberen Adria, leicht erreichbar über den Fluss Natissa, war Aquileia der einzige natürliche Hafen. Er wurde schnell zu einem kontinentalen Güterverteilzentrum ersten Ranges. Das römische Mittelmeer war ein zusammenhängender, einheitlicher Raum, Aquileias Bezugshafen am anderen Ufer war Ägyptens Alexandria, und die gut 2000 Amphoren im Museum zeigen, wie eng für Öl, Getreide, Wein, Keramik und die Fischsoße Garum die Handelsbeziehungen zur Provinz Africa waren, dem heutigen Tunesien. Von Norden, aus „barbarischem“Gebiet, kamen auf dem Landweg Bernstein, Pelze, Sklaven, Salz. In West-OstRichtung lief der Austausch zwischen Italien und dem Balkan.
Doch Aquileia verteilte nicht nur. Sein Museum, in das sich heute weniger als ein Zehntel der Touristen verirrt, beherbergt die größte bekannte Sammlung von Gemmen und Kameen. Das heißt: In Aquileia existierte eine gewaltige Industrie der Edelsteinbearbeitung, die zusammen mit der Schmuckfabrikation rund um Bernstein und dem Ha- fen als solchem eine immense Kaufkraft in die Stadt brachte.
Das, was von den Römervillen übrig geblieben ist, spiegelt die jeweiligen modischen Trends der Hauptstadt wider. Und man weiß, dass in der Welthandelsstadt Aquileia alle nur denkbaren Sprachen und Völkerschaften zusammenlebten. Friedlich, zu wechselseitigem Nutzen. Denn von Konflikten hätten die Geschichtsschreiber schon berichtet. Unter Augustus (31 vor Christus bis 14. n. Chr.) hatte Aquileia sogar seine Stadtmauern verfallen lassen; man dachte, im kaiserlich garantierten ewigen Frieden würde sie keiner mehr brauchen. Doch dann kam Attila.
Zum Glück hatte Aquileia da längst eine Basis gelegt, die der Stadt auf lange Sicht den Charakter und ihre Wiederauferstehung garantierte. Denn ein Weltuntergang ist ja nicht das Ende, sondern der Beginn einer Verwandlung. Und wie das Römische Reich ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation überging – das immerhin bis 1806 hielt –, so sprang in Aquileia die Kirche als Kulturträger ein. Die christliche Gemeinde muss stark gewesen sein, denn praktisch im selben Augenblick, in dem Kaiser Konstantin 313 die dreihundertjährige Verfolgungszeit beendete, errichtete sie unter dem Kaufmannssohn und Bischof
Nach dem »Weltuntergang«, dem Einfall der »Barbaren«, sprang die Kirche ein.