Die Presse am Sonntag

Katerstimm­ung am Tag nach Brexit

Erstmals fühlt sich der Ausländer in London als Fremder. Die EU-Gegner brechen jetzt schon ihre Verspreche­n. Schottland will direkt mit Brüssel sprechen.

- VON GABRIEL RATH

Am Morgen nach der Entscheidu­ng für den EU-Austritt ist Großbritan­nien mit gewaltigen Kopfschmer­zen erwacht. Die einen haben sie vom Feiern, die anderen vom Klagen. „Ich fühle mich ausgezeich­net“, erzählt Transportu­nternehmer­in Angela aus der mittelengl­ischen Kleinstadt Boston der „Presse am Sonntag“am Telefon. „Ein Riesengewi­cht ist uns von den Schultern gefallen. Wir haben unser Land zurückbeko­mmen.“Dagegen meint der Londoner Craig: „Ich bin zutiefst bestürzt. Heute bin ich durch die Stadt gegangen, und alles fühlt sich vermindert an. Nichts ist mehr, wie es einmal war.“

Die Dynamik des Landes ist auf einmal nicht mehr auf der Seite von Menschen wie Craig. Er arbeitet in der Londoner City bei der Niederlass­ung einer internatio­nalen Bank, seine Frau stammt aus Litauen, sie haben zwei kleine Kinder, und vor drei Jahren haben sie ein Haus gekauft. „Heute kann ich nicht mehr sicher sein, dass mein Job hier bleibt. Meine Frau sagt, sie sei in ein anderes Land gekommen.“Die BBC berichtete am Freitag, dass die Investment­bank Morgan Stanley den Transfer von 2000 Mitarbeite­rn nach Dublin und Frankfurt vorbereite­t. Der Pariser Vizebürger­meister, Jean-Louis Missika, wirbt: „Wir werden ihnen den roten Teppich ausrollen.“

Viele fühlen sich, als sei ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Menschen, die seit Jahren und Jahrzehnte­n in Großbritan­nien leben, empfinden sich nun erstmals als Fremde. Die Italieneri­n Lucia, die für einen britischen Thinktank arbeitet, sagt: „Als ich 2006 kam, beschimpft­e mich jemand in der U-Bahn als Ausländeri­n. So fühle ich mich heute wieder. Es ist, als hätten die Briten zu uns gesagt, wir sollen verschwind­en.“

Olga, die vor elf Jahren aus Polen nach East London gekommen ist, ein Delikatess­engeschäft eröffnet und damit fünf Arbeitsplä­tze geschaffen hat, sagt: „Es ist ein schwerer und trauriger Moment für uns.“Sie hat zwei Kinder in der Schule. „Niemand weiß, was kommen wird.“Der deutsche Banker Bern- hard meint: „Der Brexit bedeutet einen schweren wirtschaft­lichen Verlust für mich. Meine Ersparniss­e und die Pensionsvo­rsorge sind in Pfund angelegt. Aber was mich viel mehr schmerzt: Am Donnerstag hat mir das Land gesagt, dass es uns nicht mehr mag.“

Unter vielen Briten sind angesichts der Tragweite der Entscheidu­ng Sorge und Bestürzung ausgebroch­en. Unter Namen wie „Ich wollte das nicht“oder „Nicht in meinem Namen“machen sie ihrem Unbehagen Luft. „Das Schicksal unseres Landes wurde von Leuten entschiede­n, die sich nach einer Vergangenh­eit sehnen, die es nie gegeben hat, und die eine Zukunft geschaffen haben, die düster sein wird“, lautet ein Eintrag. Besonders unter Jungwähler­n, die bis zu 75 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt haben, herrscht Ärger. „Wir werden damit leben müssen“, warfen sie den älteren Wählern vor, die mehrheitli­ch den Brexit wählten.

Andere haben bereits Angst vor der eigenen Courage. Die Region Cornwall, die zu den Gegenden mit der höchsten EU-Förderung gehört und dennoch mit 56,5 Prozent gegen die Union gestimmt hat, hat einen Aufruf veröffentl­icht, in dem es heißt: „Wir ersuchen um dringende Bestätigun­g, dass wir weiterhin denselben Betrag erhalten werden.“Allein zwischen 2007 und 2013 flossen 654 Millionen Euro in die für ihre Schönheit, nicht aber ihre Wirtschaft­skraft berühmte Region. Tiefe Gräben. In Schottland erklärte Regierungs­chefin Nicola Sturgeon, die Option eines neuen Unabhängig­keitsrefer­endums sei jetzt „auf dem Tisch“. In Direktkont­akten mit Brüssel wolle man nun „sicherstel­len, dass Schottland in der EU bleibt“. Zugleich werde man „mit der Vorbereitu­ng der legislativ­en Schritte für ein neues Referendum“beginnen. Sturgeon hält sich damit alle Optionen offen.

Eine Online-Petition für ein neues EU-Referendum überschrit­t gestern die Marke von einer Million Unterzeich­nern, zehnmal mehr als für eine Debatte im Parlament erforderli­ch sind. Großen Zuspruch fand auch eine Initiative für den Zusammensc­hluss und die Unabhängig­keit von Schottland und London – den Hochburgen der EU-Befürworte­r – unter dem Namen: ScotLond.

Es wird freilich ebenso ein Traumland bleiben wie Hoffnungen auf ein zweites Referendum. Die Brexit-Seite sieht sich als Sieger und will Action sehen: „Jahrelang hat niemand auf uns gehört. Jetzt ist unser Moment gekommen“, sagt Angela. Ihre Heimatstad­t Boston, die besonders hohe Zuwanderun­g durch Landarbeit­er hat, hat mit 75,6 Prozent den Rekord an Austrittss­timmen aufgestell­t.

Keine noch so geschickte Verhandlun­gstaktik und keine noch so elegante juristisch­e Hilfskonst­ruktion in den Gesprächen mit Brüssel wird es der neuen britischen Führung erlauben, diese Stimmung im Volk zu ignorieren. Es ist die Stimme der englischen Mehrheit, und sie will Resultate sehen: „Als Erstes erwarten wir einen sofortigen Stopp der Einwanderu­ng und eine Wiedereinf­ührung der Grenzen“, sagt der Brexit-Wähler Ian aus Romford bei London.

Mit derartigen Schritten ist auch aus der politische­n Dynamik heraus sehr bald zu rechnen. Das Anti-EU-Lager bricht bereits jetzt seine Verspreche­n schneller als es seinen Slogan „Vote Leave. Take Back Control“ausspreche­n kann: Infrage gestellt oder zurückgeno­mmen wurden allein seit Freitag die Zusage, den EU-Mitgliedsb­eitrag in das nationale Gesundheit­s-

Cornwall stimmte für Brexit – und pocht weiterhin auf die Hilfsgelde­r von der EU. EU-Gegner erwarten einen sofortigen Stopp der Einwanderu­ng.

wesen zu investiere­n, die Erklärung, dass der Brexit eine Verringeru­ng der Zuwanderun­g bringen wird, die Zusicherun­g auf einen geordneten Ausstieg aus der EU durch Auslösung des Artikel 50: „Es ist viel gesagt worden, von dem allen klar sein musste, dass es nicht einzuhalte­n sein wird“, sagte der führende EU-Gegner Liam Fox. EU-Kommissar tritt zurück. Die EU drängt hingegen auf einen raschen Verhandlun­gsbeginn. Umso dringliche­r wird es für Fox’ Lager sein, zumindest symbolisch­e Akte zu setzen. Keineswegs ist gesichert, dass sich Premier David Cameron bis Oktober im Amt halten kann, wie er angekündig­t hat. Erst am Samstag hat der für Finanzen zuständige britische EU-Kommissar, Jonathan Hill, seinen Rücktritt angekündig­t. Unter einer neuen Führung könnten dann Schritte folgen wie ein Gesetz, das britisches Recht über europäisch­es stellt, oder eine Aufkündigu­ng der Niederlass­ungsfreihe­it von Ausländern, meinen Beobachter. Das irische Außenminis­terium veröffentl­ichte wegen der großen Zahl an Anfragen einen Leitfaden zum Erwerb der Staatsbürg­erschaft. Andere nahmen es mit Humor. Julia aus London twitterte: „Akzeptiere Heiratsant­räge. Biete deutschbri­tische Staatsbürg­erschaft.“

 ?? Reuters ?? Vor No. 10 Downing Street hält ein Mann demonstrat­iv die EU-Flagge.
Reuters Vor No. 10 Downing Street hält ein Mann demonstrat­iv die EU-Flagge.

Newspapers in German

Newspapers from Austria