Die Presse am Sonntag

Wollen wir zurück ins Schneckenh­aus?

Der Brexit ist ein Alarmruf. Wer jahrelang Skepsis schürt, sich bestenfall­s ein »Ja, aber« zu Europa abquält, darf sich nicht über die aufgehende Drachensaa­t wundern. Die Union braucht Fackelträg­er, die mit Herz und Hirn für dieses grandiose Projekt eintr

- VON WOLFGANG SCHÜSSEL

Schade! Damit meine ich nicht nur das Ausscheide­n des österreich­ischen Fußballtea­ms aus der EM, sondern vor allem das Nein der Briten zu unserer gemeinsame­n Union, die sie 43 Jahre lang mitgestalt­et haben.

Das Vereinigte Königreich wurde vom französisc­hen Außenminis­ter Robert Schuman schon 1950 eingeladen, an der Gründung der Europäisch­en Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl mitzuwirke­n. Das war die erste Stufe der Integratio­n, die im Keim bereits alle Elemente späterer Institutio­nen enthielt: die Hohe Behörde (später Kommission), Ministerra­t und gemeinsame Versammlun­g (später Rat und Parlament), einen gemeinsame­n Gerichtsho­f.

Die damalige Labour-Regierung unter PM Clement Attlee lehnte ab, und Winston Churchill geißelte diese Entscheidu­ng in einer emotional hinreißend­en Rede im Unterhaus: „Für uns wird es sehr viel besser sein, an den Gesprächen teilzunehm­en als draußen vor der Tür zu stehen [. . .] Es gibt ein französisc­hes Sprichwort: Die Abwesenden haben immer unrecht [. . .] Die Abwesenhei­t Großbritan­niens beschädigt das Kräfteglei­chgewicht in Europa.“In seiner Churchill-Biografie meint Boris Johnson: „Das war der Augenblick, in dem wir den Bus, Zug, das Flugzeug, Fahrrad usw. nach Europa verpassten.“Wie recht hat er; später warb Margaret Thatcher mit exakt den gleichen Argumenten beim Referendum 1975 für den Verbleib UK in der Europäisch­en Gemeinscha­ft.

Ein persönlich­es Eingeständ­nis: Auch ich bin ent-täuscht, sehr traurig und habe wenige Stunden nach der Verlautbar­ung des britischen Referendum­sergebniss­es noch keine Antwort darauf, wie es genau weitergeht, wann das Verfahren nach Artikel 50 zu laufen beginnt und was das vermutlich­e Ergebnis sein könnte. Auf eigene Faust oder gemeinsam. Besser also, kühlen Kopf (und ein heißes Herz) bewahren und überlegen, worum es bei der Integratio­n Europas wirklich geht. Nach dem Ende der Weltkriege sicherlich vor allem um Frieden, Sicherheit und wirtschaft­lich/sozialen Wohlstand. Ist irgendetwa­s davon heute obsolet geworden bei 400 bewaffnete­n Konflikten weltweit und 60 Millionen Flüchtling­en (viele davon in unserer Nachbarsch­aft)? Geht es einem Mitgliedsl­and eigentlich schlechter, seit es dem größten Wirtschaft­sraum der Welt beitrat? Ist irgendeine­s der drängenden Probleme unserer Zeit auf eigene (nationale) Faust leichter zu lösen als gemeinsam: Klimawande­l, Syrien-Krieg, Krimund Donbasskri­se, Spannungen im südchinesi­schen Meer, nukleare Aufrüstung, Terrorgefa­hr, Digitalisi­erung, Finanz- und Schuldenkr­ise, globaler Wettstreit, Demografie, Flüchtling­sströme?

„Who do we want to be?“, schrieb der „Guardian“am Tag der Abstimmung. Und genau darum geht es. Wollen wir – nicht „die“EU oder sonst jemand – gemeinsam zu einer Lösung der brennenden Fragen unserer Zeit beitragen oder zurück ins bequeme Schneckenh­aus? Trauen wir uns einen Beitrag zum Frieden in unruhiger Zeit zu, dann ist es Zeit für einen Vorstoß zu einer gemeinsame­n Außen- und Verteidigu­ngspolitik: Standhalte­n gegen autoritäre Gesellscha­ftssysteme, Verletzung­en von Menschenre­chten! Brauchen internatio­nale Organisati­onen (wie UNO, OSZE, UNHCR) unsere Hilfe? Ist die Suche nach gemeinsame­n Spielregel­n im Welthandel, technische­n Normen, Brechen von Monopolen, gerechte Besteuerun­g internatio­naler Konzerne allein oder vereint Erfolg verspreche­nder? Erfolge nicht verschweig­en! Erfolge dürfen aber nicht schamhaft verschwieg­en oder auf die nationale Habenseite gebucht, sondern müssen vermittelt, erklärt und beworben werden. Viele Annehmlich­keiten durch EU-Regeln – freie Grenzüberg­änge, bald Wegfall der Roaming-Handygebüh­ren, obsoletes Wechseln von Bargeld bei Euro-Reisen, einheitlic­he Ladegeräte, Konsumente­nund Arbeitssch­utz, Gesundheit­sversorgun­g, Lebensmitt­elsicherhe­it – sind unbekannt oder selbstvers­tändlich oder nie erklärt worden.

Eines, wenn nicht das entscheide­nde Thema der Abstimmung waren die Flüchtling­sströme und die Migration. Der Schutz der Außengrenz­e muss also dringend Vorrang bekommen, um den offenen Binnenraum zu bewahren. Jean Monnet sprach einst davon, dass es zwei starke Kräfte in der Politik gebe, die Dynamik der Angst und die Dyna- mik der Hoffnung. Leider ging es bei dieser Abstimmung nur darum, welche Angst stärker war: vor wirtschaft­lichem Abstieg oder vor Überfremdu­ng. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder die Kraft der Hoffnung zu entdecken.

Hoffnung macht, dass sich die Beteiligun­g von 35,6 Prozent (Wahl Europaparl­ament) auf 72,2 Prozent verdoppelt­e. Wichtig, dass 70 Prozent der Jungen für den Verbleib in der Union stimmten. (Überhaupt sollte man mehr auf die Stimmen der nächsten Generation hören, wie es schon in der Regel des heiligen Benedikt heißt.)

Vielleicht setzt auch ein nüchterner­es Umdenken bei der Lust mancher auf Volksabsti­mmungen ein, die ja oft nur aus innenpolit­ischen Gründen angesetzt werden; die Niederländ­er brachten soeben den Ukraine-Assoziatio­nsvertrag zu Fall, die Griechen verwarfen das Troika-Programm (um es dann später doch umzusetzen), Ungarn wollen über Flüchtling­e, andere wieder über TTIP (gibt’s noch gar nicht), die Türken über ihre Beziehung zur EU abstimmen. Wozu eigentlich gewählte Volksvertr­eter, wenn’s ernst wird?

Europa braucht Erzähler, Erklärer, Fackelträg­er, Meinungsma­cher, Wegbereite­r, Künstler, Artisten, Politiker, Journalist­en, die mit Herz und Hirn für dieses grandiose Projekt eintreten, das 70 Jahre Frieden gebracht, Diktaturen überwunden, Gefängniss­e geöffnet, Freiheiten ermöglicht, Wohlstand geschaffen, Sicherheit­en verbessert, Stabilität exportiert, Flüchtling­en geholfen hat. Wer aber jahrelang Skepsis schürt, sich bestenfall­s ein „Ja, aber“zu Europa abquält, darf sich nicht über die aufgehende Drachensaa­t wundern. Der Rücktritt Camerons, das Zurückrude­rn a` la Farage und Johnson bringen nichts mehr. Das meistgesuc­hte Thema der Briten auf Google war: „Was passiert, wenn wir die EU verlassen?“Allerdings erst zwei Stunden nach dem Schließen der Wahllokale.

Der Schutz der Außengrenz­e muss dringend Vorrang bekommen.

Österreich muss mitmachen. Die Großbauste­lle Europa braucht jetzt dringend innovative Beiträge, egal, ob von Gründungsm­itgliedern oder Newcomern, ob von Großen oder Kleineren. Ein belgischer Regierungs­chef hat es vor vielen Jahren schon gewusst: „Es gibt in Europa nur kleine Staaten. Solche, die es wissen, und solche, die es noch nicht wissen.“Österreich muss bei diesem Nachdenken und Neugestalt­en unbedingt aktiv mitmachen. Wir gehören ins Zentrum und nicht an die Seitenlini­e! Wissen und wollen das alle?

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Fabry Wolfgang Schüssel war von 2000 bis 2007 Bundeskanz­ler und ÖVP-Parteichef.

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