Den liberalen Konsens gilt es zu verteidigen
Wohin der engstirnige Nationalismus führen kann, das hat jedem das 20. Jahrhundert gezeigt.
Nun weiß es jeder, eigentlich hätte man es immer schon wissen müssen: Ein Staat kann aus der EU austreten, so wie er zu Drachme oder Schilling zurückkehren kann. Man muss der EU auch nicht beitreten, ohne eine Invasion zu befürchten. Die EU ist weder Völkergefängnis noch Imperium. Sie ist ein Mittel zu verschiedenen Zwecken, die ihre Mitglieder gemeinsam definieren, im Rahmen der Institutionen, die sie sich gegeben haben.
Man könnte dicke Bücher schreiben über ihre Unzulänglichkeiten, und auch das ist erlaubt. Wenn man die EU aber verlassen will, ist eine andere Frage entscheidend: Welchen Preis zahlt man dafür, und was wird dann besser? Hat ein Land ohne EU besser geschützte Außengrenzen, mehr Geld für das Gesundheitswesen, weniger Regulierungen und mehr Wohlstand für einfache Leute, wie das die Vertreter des Brexit versprachen?
Einer der besten Gründe für die EU zu kämpfen ist heute die politische Vision ihrer stärksten Gegner. Denn trotz aller Fehler und Mängel steht die EU immer noch für einen europäischen liberalen Grundkonsens, und diesen gilt es zu verteidigen. Denn was kommt, wenn ein EU-Austritt die gemachten Versprechen nicht erfül- len wird – und das wird im Vereinigten Königreich sehr schnell sichtbar werden: Mauerbau, Einreiseverbote für bestimmte Gruppen, mehr Intoleranz, plebiszitäre Führersysteme? Wohin eine Politik des Irrationalismus, des engstirnigen Nationalismus, der Sündenböcke und des Glaubens an einfache Lösungen führen kann, in der Innenpolitik von Ländern und in ihrer Außenpolitik, das hat jedem Europäer das 20. Jahrhundert gezeigt.
Das ist keine Verteidigung der EU, wie sie sich heute darstellt. Es ist aber ein starkes Argument gegen moderne Jakobiner, die erst einmal das Alte zerschlagen, um dann irgendwie eine nationalstaatliche Utopie errichten zu wollen. Es ist ein Argument für schrittweise Reformen, für Politik als Bohren dicker Bretter, gegen die Verzerrungen, die in jeder Anti-EU-Kampagne so prominent sind. Denn wenn die EU so schlecht und ein Austritt so vorteilhaft wäre, stellt sich die Frage: Warum brauchen diese so viele Unwahrheiten um ihre Anhänger zu mobilisieren?
Die EU ist kein Selbstzweck. Wer aber unter falschen Vorzeichen und mit absurden und gefährlichen Versprechen einen Austritt vorantreibt, wie es eben in England geschah, handelt extrem fahrlässig. Und wer sich dem nicht widersetzt, ebenso.
Wenn die EU so schlecht ist, warum brauchen die Gegner dann so viele Unwahrheiten?