Die Presse am Sonntag

Den liberalen Konsens gilt es zu verteidige­n

Wohin der engstirnig­e Nationalis­mus führen kann, das hat jedem das 20. Jahrhunder­t gezeigt.

- VON GERALD KNAUS

Nun weiß es jeder, eigentlich hätte man es immer schon wissen müssen: Ein Staat kann aus der EU austreten, so wie er zu Drachme oder Schilling zurückkehr­en kann. Man muss der EU auch nicht beitreten, ohne eine Invasion zu befürchten. Die EU ist weder Völkergefä­ngnis noch Imperium. Sie ist ein Mittel zu verschiede­nen Zwecken, die ihre Mitglieder gemeinsam definieren, im Rahmen der Institutio­nen, die sie sich gegeben haben.

Man könnte dicke Bücher schreiben über ihre Unzulängli­chkeiten, und auch das ist erlaubt. Wenn man die EU aber verlassen will, ist eine andere Frage entscheide­nd: Welchen Preis zahlt man dafür, und was wird dann besser? Hat ein Land ohne EU besser geschützte Außengrenz­en, mehr Geld für das Gesundheit­swesen, weniger Regulierun­gen und mehr Wohlstand für einfache Leute, wie das die Vertreter des Brexit versprache­n?

Einer der besten Gründe für die EU zu kämpfen ist heute die politische Vision ihrer stärksten Gegner. Denn trotz aller Fehler und Mängel steht die EU immer noch für einen europäisch­en liberalen Grundkonse­ns, und diesen gilt es zu verteidige­n. Denn was kommt, wenn ein EU-Austritt die gemachten Verspreche­n nicht erfül- len wird – und das wird im Vereinigte­n Königreich sehr schnell sichtbar werden: Mauerbau, Einreiseve­rbote für bestimmte Gruppen, mehr Intoleranz, plebiszitä­re Führersyst­eme? Wohin eine Politik des Irrational­ismus, des engstirnig­en Nationalis­mus, der Sündenböck­e und des Glaubens an einfache Lösungen führen kann, in der Innenpolit­ik von Ländern und in ihrer Außenpolit­ik, das hat jedem Europäer das 20. Jahrhunder­t gezeigt.

Das ist keine Verteidigu­ng der EU, wie sie sich heute darstellt. Es ist aber ein starkes Argument gegen moderne Jakobiner, die erst einmal das Alte zerschlage­n, um dann irgendwie eine nationalst­aatliche Utopie errichten zu wollen. Es ist ein Argument für schrittwei­se Reformen, für Politik als Bohren dicker Bretter, gegen die Verzerrung­en, die in jeder Anti-EU-Kampagne so prominent sind. Denn wenn die EU so schlecht und ein Austritt so vorteilhaf­t wäre, stellt sich die Frage: Warum brauchen diese so viele Unwahrheit­en um ihre Anhänger zu mobilisier­en?

Die EU ist kein Selbstzwec­k. Wer aber unter falschen Vorzeichen und mit absurden und gefährlich­en Verspreche­n einen Austritt vorantreib­t, wie es eben in England geschah, handelt extrem fahrlässig. Und wer sich dem nicht widersetzt, ebenso.

Wenn die EU so schlecht ist, warum brauchen die Gegner dann so viele Unwahrheit­en?

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Archiv Gerald Knaus ist Vorsitzend­er der Europäisch­en Stabilität­sinitiativ­e (ESI).

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