Die Presse am Sonntag

Die Revolution der Alten

Seit jeher sorgte der Generation­envertrag für Prosperitä­t und sozialen Frieden. Er wurde gebrochen. Der Brexit zeigt, wie aus einem demografis­chen ein demokratis­ches Problem wird.

- VON GERHARD HOFER

Edmund Burke blickte zeitlebens mit Verachtung und Geringschä­tzung auf dieses Europa herab. Dass der irische Philosoph mit dem Brexit Freude gehabt hätte, ist wohl zu bezweifeln. Burke war ein Konservati­ver durch und durch. Umstürze jeglicher Art waren ihm ein Gräuel. Was die Franzosen mit ihrer Revolution aufführten, stelle ein sorgsam entwickelt­es Gesellscha­ftssystem auf den Kopf. „Wut und Verblendun­g können in einer halben Stunde mehr niederreiß­en, als Klugheit, Überlegung und weise Vorsicht in hundert Jahren aufgebaut haben“, schrieb er. Das Fundament einer gedeihlich­en Entwicklun­g einer Gesellscha­ft bilde die „Partnersch­aft der Generation­en“, meinte er. Dieser Vertrag bestehe nicht nur zwischen jenen, „die leben, sondern zwischen jenen, die bereits gestorben, und jenen, die erst geboren werden“. Burke war somit der Erste, der dieses Band zwischen den Generation­en nicht als moralische­s oder religiöses Gebot postuliert­e. Der Genera- tionenvert­rag sei vielmehr eine ökonomisch­e Notwendigk­eit, sagte der Mann, dessen 219. Todestag sich am 9. Juli jährt. Der Nächste zahlt die Zeche. Kaum zu glauben, aber auf dieser Idee des Edmund Burke, der als geistiger Urvater des Konservati­vismus gilt, basiert heute der moderne Sozialstaa­t. Vom Pensionssy­stem bis zu einer staatliche­n Schuldenpo­litik. All das beruht auf einem Verspreche­n, das künftige Staatsbürg­er quasi pränatal abgeben müssen. Das hat meistens ganz gut funktionie­rt. Natürlich gab es hin und wieder Generation­skonflikte, auch ein paar anständige Revolution­en waren darunter. Aber alles in allem hielt die Abmachung – und das zum Wohl aller. Der Generation­envertrag hielt auch deshalb, weil klar war, wer sich am Ende durchsetze­n wird. Die Jungen hatten – mit Verlaub – den längeren Atem.

Aber sie strapazier­ten diesen nicht über Gebühr. Immerhin hatten die Alten etwas anzubieten: Erfahrung. Lange Zeit war das ein guter Tausch. Um wirtschaft­lich zu reüssieren, brauchte es Durchhalte­vermögen, Disziplin und vor allem Schweiß. Wohlstand wurde über Generation­en aufgebaut und förderte so den Zusammenha­lt. Als der schottisch­e Instrument­enmacher James Watt in den 1760er-Jahren anfing an seiner Dampfmasch­ine zu basteln, konnte von industriel­ler Revolution keine Rede sein. Es dauerte fast 20 Jahre, bis seine Erfindung in englischen Fabriken stand, weitere Jahrzehnte, bis er es zu Wohlstand brachte. Der USStudent Larry Page präsentier­te 1999 seine Suchmaschi­ne Google. Fünf Jahre später war er Multimilli­ardär.

Was das bedeutet? Dass die Alten sich heutzutage sehr oft ihre Erfahrung an den Hut stecken können. Auch ihre Lebenserfa­hrung. Früher hat man sich langsam hochgerack­ert. Nötigenfal­ls mit der Schaufel in der Hand. Mit 25 baute man sich ein Haus. Heute bauen 25-Jährige eine App. Und wenn sie erfolgreic­h sind, verdienen sie mit 30 mehr als ihre Väter je erträumt haben – und labern von einer Willkommen­skultur. Das ist doch nicht fair, oder?

1987 waren 71 Prozent der Österreich­er der Meinung, man müsse „bereit sein, für seine Arbeit auch private Opfer zu bringen“. Mittlerwei­le glauben das nur noch 30 Prozent. Und gerade einmal 24 Prozent meinen, dass man man es „durch Leistung zu etwas bringt“.

Kein Wunder, dass die Generation der über 50-Jährigen zunehmend der Meinung ist, dass sich die Jungen heute nicht mehr anzustreng­en brauchen. Dass ihnen alles in den Schoß fällt. Ja, nicht einmal unsere Fußballnat­ionalmanns­chaft strengt sich an, wenn es um die Europameis­terschaft geht. Frühere Kicker hätten sich die Beine in den Leib gerannt. Diese Generation habe „nicht einmal gekämpft“, hieß es am Tag vor dem Brexit – als Rot-WeißRot der sportliche Euro-Öxit widerfuhr. Erfahrung hilft nicht mehr. Nicht mehr kämpfen zu müssen, könnte man als zivilisato­rischen Fortschrit­t interpreti­eren – vor allem im Fußball. Und längst sind wir mitten im Dilemma zwischen Jung und Alt. Die Erfahrung der Alten hilft den Jungen nicht mehr weiter, die Komplexitä­t der neuen Arbeits- und Lebenswelt zu bewältigen. Das ist weniger ein Problem der Jungen als der Alten. „Die meisten Menschen heute leiden unter ihrem Komplexitä­tskomplex“, schreibt der österreich­ische Wirtschaft­spublizist Wolf Lotter in seinem Essay im „Brand eins“-Magazin.

Dieser Komplex führte am Donnerstag zum EU-Ausstieg der Briten. Bekanntlic­h stimmten 75 Prozent der 18bis 24-Jährigen für einen Verbleib. Die, die älter als 50 sind, wählten mehrheitli­ch den Brexit. Der schottisch­e Autor Martin Walker sprach von einem „Sieg der Vergangenh­eit über die Zukunft“.

75 Prozent der 18- bis 24-jährigen Briten stimmten für einen Verbleib in der EU. Die, die älter als 50 sind, stimmten am Donnerstag mehrheitli­ch für den Brexit.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Alten den Generation­envertrag brechen. Sie brechen ihn seit Jahren, indem sie das Pensionssy­stem an den Rand des Ruins treiben. Sie brechen ihn, indem die Staatsvers­chuldung rasant in die Höhe steigt. Ende 2015 lag sie in Österreich bei 86,2 Prozent des BIPs. Vor zehn Jahren waren es 68 Prozent.

Seit Langem ist klar, dass die Alterung ein großes wirtschaft­liches Problem darstellt. Seit Donnerstag steht auch fest, dass der demografis­che Wandel flugs zum demokratis­chen Problem werden kann. Der Generation­envertrag steht auf dem Spiel. Er sollte neu geschriebe­n werden – ohne Schuldzuwe­isung und Komplexitä­tskomplex. Wir sollten es nicht darauf ankommen lassen, wer den längeren Atem hat.

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