Die Welt mit Ohren sehen
Eine Blinde hat gelernt, Körpersprache zu hören. Diese Gabe macht sie zu einer der wichtigsten Mitarbeiterinnen eines großen Technologiekonzerns.
Bekanntlich macht der Ton die Musik. Kaum jemand weiß das so gut wie Amanda Kailich. Die 39-Jährige hört, wenn Menschen miteinander sprechen, Dinge, die andere nicht wahrnehmen. Sie erkennt die Stimmungslage an der Stimmlage und kann in Gesprächen auf diese Emotionen eingehen, wie wohl wenige andere.
Diese Gabe ist dem Umstand geschuldet, dass Frau Kailich blind ist. Sie leidet seit ihrer Geburt an der Krankheit Retinopathia Pigmentosa, einem irreparablen Gendefekt. Durch den Einfall von Sonnenlicht bekommt die Netzhaut über die Jahre Pigmentflecken – Signale erreichen das Gehirn nicht mehr. Amanda Kailichs Sehkraft wurde mit der Zeit immer schlechter, bis sie vor drei Jahren vollständig erblindete.
Jetzt hat sie ein Sinnesorgan weniger, schärfte dafür aber ein anderes. „Ich höre Dinge, die andere nicht wahrnehmen, weil ich ja nicht die Möglichkeit habe, Mimik oder Gestik zu lesen“, sagt Kailich. Zumindest nicht mit den Augen: „Man kann aber auch an der Stimme sehr viel zur Körpersprache des Menschen erfahren. Etwa, ob jemand gelangweilt im Sessel hängt oder aufrecht sitzt, weil er vielleicht aufgeregt ist. Das alles schlägt sich auf die Tonlage und das Stimmvolumen nieder“, sagt sie. Was andere nur unbewusst wahrnehmen, hat Kailich über viele Jahre analysiert und übersetzt – und versuchte aus ihrem Manko beruflich einen Vorteil zu ma- chen. „Eigentlich wollte ich Veterinärmedizinerin werden, aber ich habe gelernt zu wollen, was geht“, sagt sie. Sie machte eine Sprechausbildung und ließ sich zur staatlich geprüften Trainerin qualifizieren. Wertvolle Mitarbeiterin. Ihr Leidensweg und die dadurch erlangte Gabe machen sie für ihren jetzigen Arbeitgeber, das Unternehmen ITSV GmbH, zu einer seiner wertvollsten Mitarbeiterinnen. Der Konzern beschäftigt rund 700 Leute, entwickelt einerseits Software und betreibt Rechenzentren in Österreich. Andererseits fungiert das Unternehmen aber auch als Servicecenter. Im Callcenter von ITSV an der Donaumarina im zweiten Gemeindebezirk rufen jene Technologiekonzerne an, die Software gekauft und Fragen dazu oder Probleme damit haben.
Weiters bietet ITSV aber auch Telefonservice für Sozialversicherungsträger und im Gesundheitsbereich an. Das Unternehmen betreut E-Card-Versicherte, beantwortet Fragen zur Bürgerkarte, der Vorsorgeuntersuchung, zur Mammografie oder dem SV-Kundenportal. Wer also seine E-Card verloren oder Fragen zu Elga hat, landet hier bei einem der rund 80 Callcenteragenten, die diese Probleme dann lösen müssen. Rund 1500 Anrufe gehen täglich ein, die im Schnitt fünf Minuten und fünfzig Sekunden dauern.
Oft ist es für die Telefonisten keine einfache Aufgabe, stets höflich und sachlich zu bleiben – denn viele Anrufer sind aufgeregt, wütend oder ungeduldig, hören darum gar nicht zu oder schreien herum. Damit dennoch ein vernünftiges Gespräch zustande kommen kann, braucht es oftmals Zungenspitzengefühl – und wie man das bekommt, bringt Amanda Kailich den Mitarbeitern bei. Jeder Callcenteragent muss eine Schulung bei ihr durchlaufen und bekommt mindestens einmal im Jahr ein Einzeltraining. Zuhören. „Das Wichtigste ist, einmal zu erkennen, wie ist der Gesprächspartner drauf – denn ist er ängstlich oder verärgert, wird er mir nicht hören, was ich inhaltlich mitteilen will“, sagt Kailich. Man müsse also zuerst die Emotionen aus der Stimme lesen lernen – um diese dann herausnehmen zu können. Oft ginge das mit einfachen Tricks. „Jeder hat natürliche Gesprächspausen, wenn er zum Beispiel Luft holt“, sagt Kailich. Da müsse man ansetzen. Der Satz „Ich muss Sie kurz unterbrechen“, sei aber stets zu vermeiden. Denn jemanden zu unterbrechen, empfänden viele als unhöflich. „Wenn man aber sagt: ,Darf ich hier kurz einhaken‘ klingt das nach: ,Sie haben etwas sehr Interessantes gesagt‘ – das akzeptieren fast alle“, sagt Kailich.
Kommunikation sei immer Ursache und Wirkung – dementsprechend würden auch Kunden auf die Callcenteragenten – wenn auch oft unterbewusst – reagieren. „Was man denkt, das drückt man auch durch die Stimme aus“, sagt sie. Man hört am Telefon schon bei der Begrüßung, ob jemand desinteressiert in seinem Stuhl lümmelt oder wirklich bemüht ist, sich eines Problems anzunehmen.“
Kailich hat bei ITSV den für sie perfekten Arbeitsplatz gefunden, ist hier glücklich. Sie ist ein Beispiel dafür, dass behinderte Menschen aufgrund ihrer speziellen Fähigkeiten besonders wertvolle Mitarbeiter sein können – wenn sie richtig eingesetzt werden.
„Das Hauptproblem ist aber, dass man meist gar nicht erst bis zum Vorstellungsgespräch kommt“, sagt Kailich. Wenn Arbeitgeber das Wort „blind“in der Bewerbung lesen, sei das fast immer ein Ausschlussgrund. „Dabei vergessen sie aber eines: Ein behinderter Mensch ist meist ein wirklich top motivierter, fleißiger Mitarbeiter, weil der will sich wirklich was beweisen“, sagt Kailich.
»Man kann an der Stimme viel über die Körpersprache eines Menschen erfahren.« Behinderte Menschen sind doppelt so häufig arbeitslos wie nicht behinderte.
Behinderte Menschen sind in Österreich mehr als doppelt so häufig arbeitslos wie nicht behinderte, haben oft überhaupt nur auf dem dritten Arbeitsmarkt eine Chance. Der Ruf nach Inklusivität wurde in den vergangen Jahren oft laut, durchgesetzt hat sich das aber noch nicht.
Im Gegenteil: Mit der seit 2008 schwelenden Wirtschaftskrise habe sich die Situation gerade für behinderte Menschen auf dem regulären Arbeitsmarkt noch mehr verschärft, klagen Behindertenverbände. Gerade Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sind häufig arbeitslos – sie gelten als schwerbehindert. In Österreich gibt es rund 318.000 sehbehinderte und blinde Menschen.