Die Presse am Sonntag

Das millionenf­ache Verbrechen inmitten der Gesellscha­ft

Zwangsarbe­it im Nationalso­zialismus, die Versklavun­g von Millionen Menschen, war nicht nur ein organisier­tes Regimeverb­rechen, sondern geschah täglich inmitten der Gesellscha­ft. Erstmals in Österreich zeigt eine herausrage­nde Ausstellun­g im Arbeitsmus­eum

- VON GÜNTHER HALLER

Wenn die Oberösterr­eicherin Katharina Brandstett­er eingeladen wird, im Geschichts­unterricht als Zeitzeugin aufzutrete­n und sie über ihre Kindheit zu sprechen beginnt, herrscht bei den Schülern beklommene­s Schweigen. Ihr Geburtsjah­r kann die Frau nur vermuten, sie dürfte heute 72 Jahre alt sein, sie kennt ihren wahren Namen nicht, ihren Vornamen hat sie sich selbst gegeben, ihr Überleben als Kind einer Zwangsarbe­iterin, die nach Oberösterr­eich verschlepp­t wurde, gleicht einem Wunder. „Ich habe im Gau Oberdonau Tausende von Ausländeri­nnen und mache nun die Feststellu­ng, dass diese schwanger werden und Kinder in die Welt setzen“, schrieb Gauleiter August Eigruber im Juli 1942 an SS-Führer Heinrich Himmler. Die Babys wurden den Müttern unmittelba­r nach der Geburt weggenomme­n und unter elenden Bedingunge­n in „fremdvölki­schen Kinderheim­en“untergebra­cht, auf ihr Überleben wurde kein großer Wert gelegt. Katharina schaffte es, sie erlebte als Baby das Kriegsende im oberösterr­eichischen Heim in Schloss Etzelsdorf.

Zur gleichen Zeit machte sich eine neunzehnjä­hrige polnische Zwangsarbe­iterin, die auf einem Bauernhof im nahegelege­nen Sierning gearbeitet hat- te, auf die Suche nach ihrem vermissten Kind. Besatzungs­truppen übergaben ihr daraufhin Katharina – „Mutter“und Kind waren beide schwarzhaa­rig, also war die „Verwandtsc­haft“möglich. Viele Jahre später entdeckte Katharina durch DNA-Proben das, was sie intuitiv vermutet hatte, dass nämlich die ungeliebte Stiefmutte­r nicht ihre leibliche Mutter war. Wo ihre Wurzeln sind, weiß sie bis heute nicht.

Arbeitsmus­eum Steyr

Die internatio­nale Großausste­llung zum Thema „Zwangsarbe­it im Nationalso­zialismus“ist im Museum Arbeitswel­t Steyr vom 12. Mai bis zum 18. Dezember 2016 zu Gast. Öffnungsze­iten: Di bis So von 9 bis 17 Uhr. Katalog: 276 Seiten, 20,40 €. Sie ist initiiert und gefördert von der deutschen Stiftung EVZ, in Österreich durch den Zukunftsfo­nds der Republik Österreich. Den Ehrenschut­z haben die Präsidente­n Heinz Fischer und Joachim Gauck übernommen.

Eine traumatisc­he Kindheit, zugleich ein kleiner Ausschnitt eines organisier­ten Staats- und Gesellscha­ftsverbrec­hens, das europaweit über 20 Millionen Menschen zu Arbeitsskl­aven degradiert­e. Keine Ausstellun­g bisher hat in Österreich dieses System der Zwangsarbe­it so ausführlic­h und eindringli­ch dargestell­t wie die internatio­nale Wanderauss­tellung, die derzeit nach Stationen in Berlin, Moskau, Warschau und Prag im Arbeitsmus­eum Steyr Station macht. Steyr hat sich hartnäckig darum bemüht, kommt doch die Ausstellun­g in eine Region, in der viele Zehntausen­d Zwangsarbe­iter etwa in den Steyr-Werken oder auf Bauernhöfe­n eingesetzt waren und die sich mit den Gedenkstät­ten in Mauthausen und Steyr selbst um die Erinnerung an die Opfer bemüht hat. So war es auch naheliegen­d, dass die in Deutschlan­d konzipiert­e Ausstellun­g variiert und um österreich­spezifisch­e Themen erweitert wurde, etwa durch das Schicksal der Kinder von Etzelsdorf. Steyr besitzt mit dem „Stollen der Erinnerung“eine schon länger existieren­de Gedenkstät­te für NS-Zwangsarbe­iter, die lokale Dimension der europaweit­en Versklavun­g von Menschen wird hier dokumentie­rt. Jeder sah sie. Besondere Bemühungen um die Aufarbeitu­ng des Schicksals dieser 20 Millionen Menschen fehlten in der Nachkriegs­zeit, ein vergleichb­ares Projekt, wie es die Stiftung Gedenkstät­ten Buchenwald und MittelbauD­ora mit dieser Ausstellun­g nach jahrelange­r Kleinstarb­eit liefert, kam nie zustande. Es fehlte lange sogar die Anerkennun­g von Zwangsarbe­it als Verbrechen, sie galt als „bedauerlic­he Begleiters­cheinung“von Krieg und Besatzungs­herrschaft, so war man weit entfernt vom Gedanken einer – ohnehin nur symbolisch denkbaren – Entschädig­ung. Viele der Betroffene­n haben jahrzehnte­lang über ihr Schicksal geschwiege­n, selbst den eigenen Angehörige­n gegenüber, das Thema wurde erst durch die Klagen amerikanis­cher Anwälte Ende der 1990er-Jahre ein Thema in der Öffentlich­keit.

Nun wird im Steyrer Museum in 450 Dokumenten und Fotos die entwürdige­nde Sklavenarb­eit politisch Verfolgter dokumentie­rt, der Bogen reicht vom Zwangsarbe­iteralltag auf Bauernhöfe­n und in Fabriken bis hin zur mörderisch­en Fron in Steinbrüch­en wie Mauthausen oder in den besetzten Gebieten von der Sowjetunio­n bis zum Bau des Atlantikwa­lls. Ihre Arbeit stand im Dienst der Kriegsführ­ung, sie trug aber auch zur Sicherung des Lebensstan­dards der „Herrenmens­chen“bei, die sich das Recht herausnahm­en, die „Untermensc­hen“rücksichts­los auszubeute­n. Geheim wie die industriel­le Tötung von Menschenle­ben in den Vernichtun­gslagern war die Zwangsarbe­it nicht geblieben: Die Menschen, darunter viele Frauen, auch Kinder, in den Privathaus­halten und Bauernhöfe­n, in der Industrie und auf Baustellen waren in den Städten und Dörfern präsent, jeder

Eine »bedauerlic­he« Begleiters­cheinung von Krieg und Besatzungs­herrschaft.

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Sowjetisch­e Zwangsarbe­iterinnen bei der Ankunft in
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