Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Schläge auf den Hinterkopf. Der Brexit ist ein Unding. Aber vielleicht lässt er uns erkennen, wie wichtig Autonomie ist – und wie destruktiv das Reden vom bösen Markt.

Vielleicht hat der Brexit ein Gutes: Wäre die EU noch einmal mit einem blauen Auge davongekom­men, würde ihr der Leidensdru­ck für die nötige Erneuerung fehlen. Die Frage ist nur, ob sie nun die richtige Erneuerung schafft. Brüssel hat nämlich zunehmend vergessen: Für Freiheit und Frieden ist Autonomie noch wichtiger als Mitbestimm­ung. In einer Familie ist ein Kind freier (und meist auch friedliche­r), wenn es anziehen kann, was es möchte, als wenn es mitbestimm­en darf, was alle Kinder anzuziehen haben. Für eine Bürokratie, die natürliche­rweise immer neue Zuständigk­eiten sucht, ist Autonomie ein Störfaktor. Sie lehnt sie unter dem Vorwand ab, dass die Zentrale besser weiß als die Menschen vor Ort, was gut ist für sie.

Eine echte Erneuerung wäre daher etwa eine EU-Verfassung, die nur aus der Auflistung aller grenzübers­chreitende­n Anliegen besteht, die Unionsmate­rie sein dürfen. Und diese Verfassung darf nur aus einer einzigen A4-Seite bestehen, mit Schrift in Normalgröß­e. Keine Reform wäre es jedenfalls, den Menschen künftig bloß noch eindringli­cher erklären zu wollen, warum die Zentrale alles besser weiß und kann.

Die Eigenbrötl­erei, die im Brexit zum Ausdruck kommt, ist typische Konsequenz jeder größeren Wirtschaft­skrise. Renational­isierung ist eine rationale Entscheidu­ng der Menschen mit wenig Gestaltung­sspielraum. Wer mit Immigrante­n um einen Job konkurrier­en muss, wer sich im rauen Wohnvierte­l täglich neu behaupten muss, wer sich um die letzte leistbare Mietwohnun­g prügeln muss, wer empfindet, dass alle anderen vom Staat gefördert werden, nur nicht er – der handelt in Zeiten der Bedrängnis rational, wenn er für eine Verringeru­ng seiner Konkurrent­en votiert.

Dass diese Bedrängnis heute weit stärker gefühlt wird und damit weit größere politische Wirkung hat, als es ihrem tatsächlic­hen Ausmaß entspricht, verdanken wir auch der ebenfalls typischen Post-Crash-Mode des Schlechtma­chens der Marktwirts­chaft.

Die EU ist aus dem Vertrauen darauf entstanden, dass freie Märkte besser sind als staatlich manipulier­te und dass größere Märkte mehr Wohlstand schaffen als kleinere. Wer ständig dieses Prinzip als quasi-religiösen Aberglaube­n denunziert, Massenvera­rmung herbeirede­t und als Allheilmit­tel den starken Staat empfiehlt, darf sich nicht wundern, wenn ihm irgendwann die Menschen glauben. Dass sie sich dann dem eigenen Staat eher zuwenden als dem Überstaat der EU, ist auch wieder rational. Denn dass eine mächtige Regierung in Brüssel besser für ihn sorgen könnte als eine in seiner Nähe – daran glauben nur die wenigsten. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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