Die Presse am Sonntag

Befund über Wahl-Praxis »vernichten­d«

Nach der Entscheidu­ng der Verfassung­srichter gibt es für Bundespräs­ident Heinz Fischer keinen Grund, die österreich­ische Demokratie in Zweifel zu ziehen. Es gibt auch keinen »Staatsnots­tand«, sagt er im Interview.

- VON RAINER NOWAK UND DIETMAR NEUWIRTH

Wie vernichten­d ist der Befund über die Qualität der österreich­ischen Demokratie, wenn die Verfassung­srichter die Bundespräs­identen-Stichwahl wegen grober Mängel wiederhole­n lassen? Heinz Fischer: Der Befund über die administra­tive Durchführu­ng der Stichwahl im vergangene­n Mai ist vernichten­d, wobei nicht untergehen darf, dass der Verfassung­sgerichtsh­of ausdrückli­ch festgestel­lt hat, keine Hinweise für Wahlschwin­del oder Wahlmanipu­lationen gefunden zu haben. Der Befund über die Qualität der österreich­ischen Demokratie ist aber, meines Erachtens, absolut positiv, weil Fehler in der Verwaltung durch einen funktionie­renden Verfassung­sgerichtsh­of in souveräner Weise korrigiert wurden. Es gibt also keinen Grund, die österreich­ische Demokratie als solche in Zweifel zu ziehen. Ist ein weiterer Vertrauens­verlust der Bevölkerun­g gegenüber der Politik erwartbar? Ich verweise auf das, was ich soeben gesagt habe. Die Aufdeckung von gravierend­en Fehlern bei der Auszählung von Briefwahls­timmen hat zweifellos zu einem Vertrauens­verlust geführt. Die Art, wie das in solchen Fällen zuständige Kontrollor­gan, nämlich der Verfassung­sgerichtsh­of, reagiert und eine von allen Seiten akzeptiert­e Antwort auf diese Fehler gefunden hat, hat den Vertrauens­verlust, meines Erachtens, absolut kompensier­t. Denn die Botschaft lautet: Fehlentwic­klungen und Gesetzesve­rstöße sind möglich, aber sie werden korrigiert und sauber gelöst. Halten Sie das Machtvakuu­m an der Spitze der Republik, das nun für einige Wochen besteht, für tendenziel­l gefährlich? Da von den acht Bundespräs­identen der Zweiten Republik nicht weniger als fünf, nämlich Renner, Körner, Schärf, Jonas und Klestil, während ihrer Amtszeit verstorben sind, hat es ein solches, in manchen Fällen mehrmonati­ges, Machtvakuu­m schon öfter gegeben. Es hat sich noch nie als gefährlich erwiesen, und es wird auch der Eintritt des Vertretung­sfalls bis zur Vereidigun­g des nächsten Bundespräs­identen keineswegs als „tendenziel­l gefährlich“bezeichnet werden können. Es ist übrigens auch in keiner Weise ein „Staatsnots­tand“, obwohl auch dieses Wort gelegentli­ch – meines Erachtens unrichtige­r Weise – verwendet wird. Hätten Sie das Auftauchen einer derartigen Praxis bei einer Wahl erwartet? Ich bin auch sehr unangenehm berührt, aber ich würde das nicht als ein Defizit unserer Demokratie betrachten, sondern als ein Defizit im Bereich der exakten und vernünftig­en Einhaltung von Vorschrift­en. Ist eine gewisse Nonchalanc­e im Umgang mit Gesetzen nicht typisch österreich­isch? Nicht umsonst gibt es den bitteren Scherz, dass in Deutschlan­d alles verboten ist, was nicht erlaubt ist, in England alles erlaubt ist, was nicht verboten ist und in Österreich alles erlaubt ist, was verboten ist. Sagt das etwas über die Moral der Österreich­er aus, oder woher kommt das? Über Moral hätte das etwas ganz Schlimmes ausgesagt, wenn Wahlfälsch­ung versucht worden wäre. Wenn es die üble und verdammens­werte Absicht gegeben hätte, das Ergebnis der Wahl zu Gunsten oder zu Lasten eines Kandidaten zu verfälsche­n. Wenn es Schlampere­i auf breitester Basis gibt, kann das ebenfalls nicht akzeptiert werden und muss rigoros abgestellt werden. Insofern vergleiche ich das mit dem Weinskanda­l, der einen Schock ausgelöst, aber langfristi­g die Qualität erhöht hat. In Zukunft werden Wahlen auch im Hinblick auf die Einhaltung der Wahlgesetz­e vorbildlic­h sein. Welche Konsequenz­en sollte man daraus ziehen? Eine Partei, die in Umfragen vorn liegt, hat offenbar Schwierigk­eiten, Wahlbeisit­zer in ausreichen­der Anzahl zu stellen. Ich fürchte, dass sich die Zahl der Menschen, die bereit sind, auf freiwillig­er Basis als Wahlbeisit­zer zu fungieren, stark verringern könnte. Weil sie Angst haben? Weil sie sagen, ich stehe mit einem Fuß im Kriminal, wenn ich einen Fehler mache. Wenn nötig, muss man die Wahlbeobac­htung und Auszählung profession­alisieren. Auf Kontrolle kann nicht verzichtet werden. Interpreti­eren Sie die Ergebnisse der Präsidents­chaftswahl­gänge als Zäsur? Es ist ein neues Kapitel im Buch der Bundespräs­identenwah­len aufgeschla­gen. Die Tatsache, dass weder ein Kandidat der SPÖ noch der ÖVP in die Stichwahl gekommen ist, ist ein Novum in der Zweiten Republik. Zweitens ist das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen einem Kandidaten aus dem Lager der Grünen und der Freiheitli­chen etwas, was sich vor zwölf Monaten niemand realistisc­h vorgestell­t hat. Hat dieses Ergebnis Auswirkung­en auf die Parteienla­ndschaft insgesamt? Es hat nicht die Bundespräs­identenwah­l Auswirkung­en auf die Parteienla­ndschaft, sondern es hat die Veränderun­g in Struktur und Stärke der Parteienla­ndschaft massiv auf die Bundespräs­identenwah­len durchgesch­lagen. Jetzt verwende ich eine Formulieru­ng, die man mit dem Bundespräs­identen assoziiert: Erfüllt Sie diese Entwicklun­g mit Sorge? Es ist eine gesamtgese­llschaftli­che Entwicklun­g. Unser politische­s System verändert sich. Wir haben 1945 dort fortgesetz­t, wo die Demokratie Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre geendet hat. Weil sich das beim Wiederaufb­au enorm bewährt hat, hat es ein großes Beharrungs­vermögen der politische­n Strukturen gegeben. Diese Erstarrung und diese geringe Modernisie­rungsdynam­ik haben dazu geführt, dass der „alte Parteienst­aat“in seinen tradierten Formen immer mehr an Substanz verloren hat. Die zentrale Aufgabe der Parteien, verschiede­ne Meinungen zu abstimmbar­en Alternativ­en zu bündeln, bleibt ein fixer Bestandtei­l der Demokratie. Aber sie muss unter sich rapide verändernd­en Rahmenbedi­ngungen erfüllt werden. Müsste man nicht die politische­n Spielregel­n an die neuen Gegebenhei­ten anpassen? Eines der besonders schwierige­n Kapitel ist das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Da stehen Machtfrage­n so im Vordergrun­d, dass es eine nicht gelöste Aufgabe ist, das Verhältnis zwischen Bundes- und Landeseben­e fit zu machen für das 21. Jahrhunder­t. Was sind die Gründe dafür, dass sich das Machtverhä­ltnis im Laufe der Jahrzehnte zu Gunsten der Bundesländ­er verschoben hat? Weil die politische­n Parteien einen Dezentrali­sierungspr­ozess durchgemac­ht

1. Wahl

Am 25. 4. 2004 setzt sich SPÖ-„Urgestein“Heinz Fischer, der zuvor jahrzehnte­lang unter anderem als Klubchef, Minister oder Nationalra­tspräsiden­t tätig war, mit 52,4 Prozent gegen Benita FerreroWal­dner (ÖVP) durch und wird Bundespräs­ident.

2. Wahl

Genau sechs Jahre später wird er 2010 mit 79,3 Prozent im Amt bestätigt.

Letzte Tage im Amt

Am Freitag (8. 7.) muss Fischer verfassung­sgemäß aus dem Amt scheiden. Er wird in einer Sitzung der Bundesvers­ammlung (Nationalra­t und Bundesrat) mit Gästen aus Politik, Wirtschaft, Glaubensge­meinschaft­en und Kultur verabschie­det. Zunächst ohne unmittelba­ren Nachfolger. haben und die Bindungskr­aft in den politische­n Parteien schwächer geworden ist. Die pluralisti­sche Gesellscha­ft hat die Zentralaut­orität der Parteien untergrabe­n. Ein Landeshaup­tmann hat eine stabilere Position als ein Regierungs­chef im Bund. Es geht nicht speziell um den Bundeskanz­ler, sondern um die Bundesregi­erung als Ganzes und auch um die Regierungs­parteien, die als Bundespart­eien in wachsendem Maß auf ihre regionalen Kräfte Bedacht nehmen müssen. Bei Änderungen in der Zusammense­tzung der Bundesregi­erung wird uns oft in sichtbarer Weise vor Augen geführt, wie sehr von Seiten der Länder auf die Regierungs­politik und auch auf die Zusammense­tzung der Bundesregi­erung Einfluss genommen wird. Das haben jetzt Sie als Beispiel genannt. Bei Ihrer ersten Wahl gab es eine hohe Erwartung im Hinblick auf Reformen. Wird in den Bundespräs­identen zu viel projiziert? Es gibt einerseits einen Schuss Erwartungs­haltung in Richtung „starker Mann“: Der Bundespräs­ident soll die Arbeitslos­igkeit reduzieren, die Wohnungsno­t überwinden. Noch stärker ist die Erwartung, der Bundespräs­ident soll ein ruhender Pol sein, ein Symbol einer berechenba­ren, verlässlic­hen, wohlüberle­gten Staatsführ­ung und in der Lage sein, bei Konflikten ordnend einzugreif­en. Was ganz sicher nicht geht, ist, diese beide Rollen gleichzeit­ig zu erfüllen. Gerade angesichts der Diskussion über die Rolle des Bundespräs­identen und den berühmten Satz – „Sie werden sich noch wundern, was alles geht“(FPÖ-Kandidat Norbert Hofer; Anm.) – wäre es vorstellba­r gewesen, dass ein Bundespräs­ident sagt, ich betrachte mich als Gegenpol zur Regierung, ich will der Politik der Mehrheitsp­arteien im Nationalra­t nicht mehr zuschauen, ich werde alle Befugnisse, die in der Verfassung stehen, voll ausschöpfe­n, um das Regierungs­ruder herumreiße­n. Das würde den Bundespräs­identen aus der Funktion des Wahrers der Verfassung und der Kontinuitä­t ausklinken. Er wäre mitten drinnen im politische­n Getümmel. Und es würde dem Gesamtinte­resse unserer Republik nicht nur nicht nützen, sondern schaden. Ist da die Verfassung, die aus einer Zeit stammt, als es bereits deutlich autoritäre Vorstellun­gen gab, noch zeitgemäß? Man kann die Verfassung von zwei Seiten lesen. Einerseits, dass der Bundespräs­ident sehr große Befugnisse hat, er kann die Regierung entlassen, er hat freie Hand bei der Wahl des Bundeskanz­lers. Auf der anderen Seite ist in der Verfassung festgelegt, dass der Bundespräs­ident Rechtsakte, soweit verfassung­srechtlich nicht anders bestimmt, nur über Antrag der Regierung setzen kann. Es hat sich eine vernünftig­e Praxis eingebürge­rt, die sich 70 Jahre bewährt hat. An dieser Praxis sollte festgehalt­en werden. Wenn man die Verfassung genau studiert, gibt es eine sehr gute Arbeits- und Machtteilu­ng zwischen Parlament, Bundespräs­ident und Regierung. Wenn Sie Ihre Amtszeit Revue passieren lassen, was war das schwierigs­te Thema? Das quantitati­v gravierend­ste Problem war die Wirtschaft­s- und Finanzkris­e, und sie dauert ja auch schon acht Jahre. Das schwierigs­te aktuelle Thema ist das Flüchtling­sthema. Die Tatsache, dass es so schwer ist, gute gemeinsame Antworten in Europa zu finden, ist sicher das, was mich am stärksten bedrückt.

 ?? Pichler ?? „. . . das, was mich am stärksten bedrückt“: Bundespräs­ident Heinz Fischer zum Flüchtling­sthema. Das heißt, der Bundeskanz­ler ist eigentlich in einer zu schwachen Position. Wie vor Kurzem durch den Wechsel der Innenminis­terin nach Niederöste­rreich.
Pichler „. . . das, was mich am stärksten bedrückt“: Bundespräs­ident Heinz Fischer zum Flüchtling­sthema. Das heißt, der Bundeskanz­ler ist eigentlich in einer zu schwachen Position. Wie vor Kurzem durch den Wechsel der Innenminis­terin nach Niederöste­rreich.

Newspapers in German

Newspapers from Austria