Die Presse am Sonntag

» Pack deine Sachen und verschwind­e «

Nach dem Brexit erlebt Großbritan­nien ein Aufflammen von gekommen. Doch die Probleme liegen tiefer. Fremdenfei­ndlichkeit. Mancher meint, seine Stunde sei nun

- VON GABRIEL RATH (LONDON)

Als Sophie am Dienstag nach Hause kam, fand sie ihr Kindermädc­hen in Tränen aufgelöst. „Ich gehe weg von hier“, kündigte die ältere Frau aus Polen der jungen Anwältin aus Südlondon an. „Meine Kinder werden in der Schule verhöhnt, ich werde auf der Straße beschimpft. Ich halte es nicht mehr aus.“Seit der Entscheidu­ng der Briten gegen die EU-Mitgliedsc­haft häufen sich im ganzen Land derartige Vorfälle. Premiermin­ister David Cameron sprach von „abscheulic­hem Rassismus“.

In Boston, der Rekordgeme­inde mit 75 Prozent Brexit-Stimmen, sagte ein Gast zu einer polnischen Kellnerin: „Mich wundert, dass du so fröhlich bist. Du hast 48 Stunden, um deine Sachen zu packen und zu verschwind­en.“In Westlondon wurde das polnische Kulturzent­rum mit rassistisc­hen Graffiti beschmiert. In der Grafschaft Cambridges­hire wurden Zettel mit den Worten verteilt: „Polnisches Ungeziefer, verschwind­et!“Englische Fußballfan­s bejubeln den EU-Ausstieg und singen vom „Vergasen“.

In Manchester wurde ein dunkelhäut­iger Mann in der Straßenbah­n von drei Jugendlich­en angegriffe­n: „Verschwind­e nach Afrika!“Der Mann ist in den USA geboren, britischer Staatsbürg­er und hat hier sieben Jahre in der Armee gedient. Im Wahlkreis Wakefield wurden Ausländer auf der Straße aufgeforde­rt: „Wir haben raus gewählt. Also pack deine Sachen und verschwind­e.“In Newcastle verlangten Demonstran­ten „Stop Immigratio­n. Start Repatriati­on.“

Einer deutschen Familie in Nordlondon wurden Fäkalien durch den Briefschli­tz geworfen, eine Französin wurde öffentlich als Ausländeri­n beschimpft und aufgeforde­rt, Englisch zu sprechen. In Großbritan­nien geborene Asiaten werden als „Paki“bezeichnet, ein geächtetes Schimpfwor­t.

In den Tagen nach dem Referendum verzeichne­ten die Behörden einen Zuwachs an rassistisc­hen Übergriffe­n von fast 60 Prozent. Die Facebook-Seite „Worrying Signs“liefert eine Chronik der laufenden Untaten. Die Täter erweisen sich dabei als paradoxe Vorreiter der Gleichbeha­ndlung aller Rassen: Sie hassen alle Ausländer gleich.

Millionen

Menschen sind in den vergangene­n 15 Jahren nach Großbritan­nien gekommen. Mehr als die Hälfte stammt nicht aus der EU.

Prozent

– um so viel ist die Zahl der rassistisc­hen Übergriffe, die die britischen Behörden verzeichne­t haben, nach dem Referendum gestiegen. Die meisten Vergehen werden aber wohl gar nicht gemeldet.

Prozent

der britischen Arbeiterkl­asse und 48 Prozent der Mittelklas­se haben nach einer jüngsten Studie ausländerf­eindliche Ansichten.

Die Täter sind eine homogene Gruppe: Meist handelt es sich um weiße Männer, von denen nun viele glauben, ihre Stunde sei gekommen. „Mach’ die Straße frei und verpiss’ dich in dein verdammtes Heimatland“, brüllt einer einen asiatische­n Taxifahrer im Osten Londons an. Die angebliche multikultu­relle Musterstad­t London erweist sich dieser Tage in erschrecke­ndem Ausmaß in Übereinsti­mmung mit dem Rest des Landes. Große Zuwanderun­g. Großbritan­nien hat in den vergangene­n 15 Jahren außerorden­tlich hohe Zuwanderun­gsraten erlebt, nachdem das Land bei der Erweiterun­g der Europäisch­en Union 2004 auf Übergangsf­risten verzichtet hatte. Nach Schätzunge­n sind seither rund 3,3 Millionen Menschen ins Land gekommen, mehr als die Hälfte stammt nicht aus der EU. Die Wirtschaft hat von billigen Arbeitskrä­ften profitiert, aber kein Brite hat wegen eines Zuwanderer­s seinen Job verloren: Es herrscht Rekordbesc­häftigung. Sie übernehmen jene Arbeiten, die Briten schon langenicht mehr machen.

Aber es ist ein harter Wettbewerb im Gang zwischen jungen, billigen und teuren, alten Arbeitnehm­ern. Zudem brachte die Zuwanderun­g massive Veränderun­gen und enorme Belastunge­n, die durch die Sparpoliti­k der Regierung noch verschärft wurden. „Wir können nicht jedes Jahr Einwanderu­ng im Ausmaß der Bevölkerun­g von Newcastle verkraften“, erklärte das Brexit-Lager. Die Stadt an der Tyne im Nordosten Englands hat 280.000 Einwohner.

Erst als die Leave-Kampagne auf das Thema Immigratio­n setzte, kam sie in Schwung. Mit allen Mitteln wurden Ressentime­nts geschürt und Stimmungen verstärkt. Man setzte auf brutale Offenheit (die „halb kenianisch­e Abstammung“von US-Präsident Obama) ebenso wie auf unterschwe­llige Töne (das Video mit dem überfüllte­n Wartezimme­r voller grimmiger Ausländer). „Auf einmal war es o. k., offen rassistisc­he Dinge zu sagen“, meint eines der Opfer der vergangene­n Tage. Immer mehr Hate Crimes. „Dog-whistle politics“nennen die Briten jene Propaganda­technik, in der man ein Klima schafft, das „den Menschen das Gefühl gibt, sie dürfen nun endlich sagen, was sie immer schon sagen wollten“, sagt Kehinde Andrews, Professor an der University of Birmingham, zur „Presse“. Dass die EU-Gegner auf ein derartiges Echo stoßen, wirft ernste Fragen auf. „Zumindest liegt es jetzt für jeden offen: Wir sind eine zutiefst rassistisc­he Gesellscha­ft“, sagt Andrews.

50 Jahre nach Verabschie­dung des Race Relation Acts kann von Gleichstel­lung keine Rede sein: Eine weiße Durchschni­ttsfamilie hat Güter (Immobilien, Ersparniss­e etc.) im Wert von 221.000 Pfund (rund 263.000 Euro), eine schwarzafr­ikanische Familie hält bei 15.000 Pfund. In Verwaltung, Justiz, Politik und Polizei sind Minderheit­en klar unterreprä­sentiert. Die Fälle polizeilic­h dokumentie­rter Hate Crimes stieg allein von 2014 auf 2015 in England und Wales um mehr als 18 Prozent. Mit großem Abstand häufigstes Delikt waren rassistisc­he Übergriffe. Aktivisten gehen davon aus, dass bis zu 90 Prozent der Vergehen nicht gemeldet werden.

Jene, die sich benachteil­igt, betrogen oder beraubt vom System fühlen, richten ihren Zorn gegen jene, die noch schwächer und rechtlich ungeschütz­t sind. Nicht umsonst drapieren die Ausländerf­einde den Union Jack um sich, als wäre die britische Fahne eine Rüstung, die unverwundb­ar macht. Nach dem jüngsten „British Social Attitudes Survey“haben 65 Prozent der Arbeiterkl­asse und 48 Prozent der Mittelklas­se ausländerf­eindliche Ansichten. Als „Rache der betrogenen englischen Arbeiterkl­asse“bezeichnet der frühere Labour-Politiker Denis MacShane das Referendum­sergebnis. Geteiltes Land. Paul Bagguley von der University of Leeds meint: „Das Land ist geteilt in zwei Drittel bis drei Viertel tolerante Menschen und ein Viertel bis ein Drittel Menschen mit intolerant­er Haltung.“Neu sei nun aber nach dem Referendum: „Ein Teil dieses Drittels fühlt sich jetzt bestärkt.“Ausländerf­eindlichke­it ist plötzlich aus der Schmuddele­cke ins öffentlich­e Geschehen gerückt: „Wir erleben einen jubelnden Rassismus“, sagt Bagguley.

Das Bild Großbritan­niens als Musterbeis­piel einer toleranten, offenen und erfolgreic­hen multikultu­rellen Gesellscha­ft erhält in diesen Tagen tiefe Risse. Von jenen, die diese Geister heraufbesc­hworen, ist dazu nun auffällig wenig zu hören.

Wie sie es mit der Verantwort­ung halten, hat diese Woche Boris Johnson gezeigt. Die gebrochene­n Verspreche­n sprechen schon jetzt Bände. Umso unausweich­licher werden die Stimmungen, die sie geschürt haben, Folgen haben.

» Meine Kinder werden in der Schule verhöhnt, ich werde auf der Straße beschimpft. « Jene, die sich benachteil­igt fühlen, richten ihren Zorn auf die, die noch schwächer sind.

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