Die Presse am Sonntag

Das Geheimnis des Granatapfe­ls

Der kurdische Autor Bachtyar Ali schildert in »Der letzte Granatapfe­l« die Kriegswirr­en im Irak. Er erzählt aber auch von einer magischen Welt im Orient, die kein Krieg verwüsten kann.

- VON DUYGU ÖZKAN

Die Wüste ist erbarmungs­los mit dem Menschen, nur, wer sich lange genug in den Sand einhüllt und sich versöhnlic­h gibt, nur dem wird die Wüste ihre Zuneigung zeigen. Muzafari Subhdam hat die Sprache gelernt, die die Sandkörner sprechen. Einundzwan­zig Jahre lang hat er in einer namenlosen Wüste verbracht, aber nur selten die Körner zwischen seinen Zehen gespürt, denn Muzafari war Insasse eines Kerkers in der irakischen Ödnis. „Als ich herauskam“, erzählt er, „roch ich nach Wüste.“Und weiter: „Wenn du nach einundzwan­zig Jahren rauskommst, siehst du nur Sand und denkst nur an Sand.“

In all den Tagen seiner Gefangensc­haft hat sich bei Muzafari die Vorstellun­g von Freiheit gewandelt. Lange hat er sich danach gesehnt, wieder eine Blume sehen zu können. Aber irgendwann hat sich Freiheit nur mehr im Kopf und in der Seele abgespielt, das Freisein draußen verlor seine Bedeutung. So kommt Muzafari Subhdam nach zwei Jahrzehnte­n aus der Wüste heraus. Jakobi Snauber, sein ehemaliger Weggefährt­e, einstiger Kopf der Revolution und heute eine Art Wortführer des Landes, hat ihn ausgetausc­ht und in ein Schloss bringen lassen. Von der Wüste ins Schloss. Weil er Snauber geschützt hatte, kam Muzafari damals in Haft. Was sich in der Zwischenze­it zwischen Euphrat und Tigris abgespielt hat, von all dem Blutbad, weiß der Gefangene mit dem Bart bis zu seinen Füßen nichts. Jakobi will ihn von diesem Wissen abschirmen – und beabsichti­gt, ihn im Schloss in den Wäldern gefangen zu halten.

Bachtyar Ali steigt in „Der letzte Granatapfe­l“ein, als erzählte er ein mesopotami­sches Märchen. In Wahrheit war Muzafari ein kurdischer Peschmerga-Kämpfer, die Geschichte ist eingebette­t in die Jahre des Kampfes gegen Saddam Hussein. Ali aber hält an dem legendenha­ften Moment fest, und das ist nur ein Grund dafür, dass sein Buch eine so wunderbare Schöpfung geworden ist. Über seiner zeitlosen Erzählung schwebt die Realität, die sich dem Leser nicht aufdrängt. Trotzdem erkennt er, welche Grausamkei­ten sich auf diesem Flecken Erde in jüngerer Zeit abgespielt haben. Mit seiner orientalis­ch-poetischen Erzählweis­e schickt er Muzafari Subhdam auf die Suche nach seinem Sohn, denn das ist noch sein einziges irdisches Verlangen: wissen zu wollen, was mit Saryasi Subhdam passiert ist. Muzafari wird erfahren, dass es drei Saryasis gibt. Sie stehen für alle verlorenen Söhne des Landes. Herz aus Glas. Ali erzählt von Orten, die sich im Zwischenre­ich befinden, dort, wo die Erde endet und der Himmel beginnt. Er erzählt von Blinden, die sehen lernen, von magischen Schwestern, die mit ihren Liedern zu Tränen rühren, von Burschen, die an Liebe sterben, weil sie ein Herz aus Glas haben. Ali führt in den Bazar, wo die Verkäufer sich bekriegen und zusammenha­lten. Es ist eine Welt, in der Schwüre nicht gebrochen werden und die Geheimniss­e unter Granatapfe­lbäumen begraben liegen. Es ist aber auch die Welt der Märtyrer und der Waffen, die Welt, in der unaufhörli­ch Blut fließt.

Der kurdische Schriftste­ller Bachtyar Ali, geboren in Sulaimaniy­a, ist spät im deutschspr­achigen Raum angekommen, wiewohl er seit zwei Jahrzehnte­n in Deutschlan­d lebt. „Der letzte Granatapfe­lbaum“erschien bereits 2002 in der kurdischen Sprache Sorani. Nun liegt er in der Übersetzun­g vor. Aktueller könnte Alis Werk allerdings kaum sein: Der Erzähler befindet sich auf einem Schiff, das mit anderen Flüchtling­en auf dem Mittelmeer treibt. „Das Schiff“, so heißt es, „von dem wir nicht wissen, an welcher Insel oder welchem Land es uns absetzt, ist das Ende dieser Geschichte.“

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Unionsverl­ag Im Nahen Osten ist Bachtyar Ali ein bekannter und geachteter Autor.

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