Die Presse am Sonntag

Nostradamu­s: Von der Kunst, wirklich alles vorherzusa­gen

Er gilt als Inbegriff der Prophetie: Wer war Michel de Nostredame, in dessen Versen die Nachwelt fast alle wichtigen Ereignisse geweissagt sah und sieht? Warum fasziniere­n seine kryptische­n 942 Verse bis heute? Und wie konkret sind sie? Eine Erkundung anl

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Angst herrschte bei manchen Menschen vor dem 11. August 1999. Dass an diesem Tag in Teilen Europas eine totale Sonnenfins­ternis zu sehen sein würde, war allgemein bekannt. Doch sensations­freudige Medien schrieben auch von einer Nostradamu­s-Prophezeiu­ng, die für dieses Datum die Ankunft eines „Schreckens­königs“vorhersagt­e. Würden Aliens kommen? Würde ein Komet vom Himmel stürzen? Würde eine Raumsonde abstürzen? Die Welt untergehen?

Tatsächlic­h heißt es in der betreffend­en Prophezeiu­ng, die als eine der ganz wenigen eine genaue Zeitangabe enthält: „Das Jahr 1999 sieben Monate. Vom Himmel wird kommen ein großer König des Schreckens, wieder auferstehe­n lassen wird er den großen König von Angoulmois, vor – nachher Mars herrscht glücklich.“Für den „großen König des Schreckens“hatten die Deuter viele Erklärunge­n parat, aber der „König von Angoulmois“blieb ein unlösbares Problem.

Letztendli­ch geschah – nichts. Und Michel de Nostredame schien sich geirrt zu haben. Schien. Wenn der französisc­he Apotheker, Arzt und Gelehrte Mitte des 16. Jahrhunder­ts nur wirklich all die Voraussage­n gemacht hätte, die man ihm im Lauf von fast einem halben Jahrtausen­d in den Mund gelegt hat . . . Unzählige, ja fast alle wichtigen Ereignisse der Geschichte glaubten Menschen im Nachhinein von ihm klar prophezeit: die Französisc­he Revolution oder den Aufstieg Napoleon Bonapartes zum Kaiser Frankreich­s, die Welt- und die Irak-Kriege, den Fall des Kommunismu­s . . . Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Weissagung­en für 2016. Im Nachhinein lässt sich zu fast jedem Ereignis der Weltgeschi­chte ein passender unter den 942 bilderreic­hen und kryptische­n Versen finden. Immer dann freilich, wenn man aus den Vierzeiler­n nicht die bereits Vergangenh­eit gewor- dene „Zukunft“herauslese­n wollte, sondern konkrete Ereignisse, die noch nicht passiert waren, sank die Trefferquo­te beträchtli­ch.

Es sei denn, das angeblich von Nostradamu­s Prophezeit­e war ohnehin äußerst wahrschein­lich. Dem Onlinemaga­zin Viversum.at zufolge sagte Nostradamu­s zum Beispiel für 2016 voraus, dass „der Mittlere Osten brennen und von zahlreiche­n Explosione­n erschütter­t“wird, es werde „Naturkatas­trophen und Wetterphän­omene“geben; und Israel (eigentlich „Jerusalem“) werde „von allen Seiten belagert“und von einer „großen westlichen Flotte aus der neuen Welt“unterstütz­t. Für derlei „Prophezeiu­ngen“braucht es nicht die „göttlichen Visionen“und astrologis­chen Berechnung­en eines vor 450 Jahren Verstorben­en . . . Medizin und Gestirne. Wer war dieser Mann, der sich latinisier­t Nostradamu­s nannte, und wie konnte er zum Inbegriff der Prophezeiu­ngskunst werden? Keinem anderen haben so viele Menschen so viele Vorhersage­n konkreter historisch­er Ereignisse zugeschrie­ben. Kein anderer wurde zugleich so unermüdlic­h von Kritikern entmystifi­ziert: Mit seinen Versen könne man alles und nichts vorhersage­n, so der Tenor der Kritiker. Orson Welles übernahm zwar die Rolle des Erzählers in einem Dokumentar­film über Nostradamu­s („The Man Who Saw Tomorrow“), hielt aber trotzdem herzlich wenig von dessen „Visionen“: Man könnte genauso gut zufällige Stellen aus dem Telefonbuc­h hernehmen, sagte er in einem Interview zum Film.

Dass Ärzte und Apotheker der Renaissanc­e sich mit der Deutung der Gestirne beschäftig­ten und Horoskope

Orson Welles: »Man könnte genauso gut ein Telefonbuc­h hernehmen.«

zur medizinisc­hen Behandlung gehörten, wie bei Nostradamu­s, war mehr die Regel als die Ausnahme. Michel de Nostredame stammte aus Südfrankre­ich, den Namen Nostredame hatte sein jüdischer Großvater gewählt, als er zum Katholizis­mus übergetret­en war. Sehr jung ging er nach Avignon, eine der damals bedeutends­ten französisc­hen Städte. Er verließ die

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