Die Presse am Sonntag

Für die Wahl, gegen die Schwerkraf­t

Vor der Oberhauswa­hl macht Japans Premier Geschenke und verschiebt die Erhöhung der Mehrwertst­euer. Ökonomen warnen vor der Zahlungsun­fähigkeit der alternden Volkswirts­chaft.

- VON FELIX LILL (TOKIO)

Die Plakate auf den Straßen paraphrasi­eren dieser Tage die Wohlfühlth­emen der vergangene­n Jahre: Eine wirtschaft­liche Erholung, die mehr Jobs bringe. Die Stärkung der japanische­n Nation, die sich in einer zusehends globalisie­rten Welt mit Kraft behaupten werde. Und die Verzögerun­g der Mehrwertst­euererhöhu­ng, damit die Menschen mehr Geld in den Taschen haben. Wer sollte zu solchen vage formuliert­en Ideen schon Nein sagen? Es scheint ausgemacht, dass Japans Premiermin­ister, Shinzo¯ Abe, nach seinen Wahlsiegen 2012, 2013 und 2014 auch diesmal wieder die Mehrheit gewinnen wird.

Am 10. Juli wählt Japan sein Oberhaus, die zweite, weniger einflussre­iche Kammer des nationalen Parlaments. Dann wird die Hälfte aller 242 Sitze neu vergeben. Was zunächst nach einer eher unwichtige­n Abstimmung aussieht, ist für die Regierung aber von hoher Bedeutung. Erringt sie nämlich auch in dieser zweiten Parlaments­kammer eine Zweidritte­lmehrheit, wird sie die nötige Mehrheit für eine seit Langem angestrebt­e Verfassung­sreform erhalten. Abes rechtskons­ervative Liberaldem­okratische Partei (LDP) will unter anderem den pazifistis­chen Artikel 9 abschaffen. Und für dieses Mandat ist er zu großen Wahlgesche­nken bereit. Eines davon ist die Aufschiebu­ng der seit Jahren geplanten Erhöhung der Mehrwertst­euer. Sie könnte noch teuer werden. Rekordstaa­tsschulden. Kein Industriel­and der Welt hat auch nur annähernd so hohe Staatsschu­lden wie Japan. Das seit Jahren de facto insolvente Grie- chenland ist mit gut 170 Prozent seiner jährlichen Wirtschaft­sleistung verschulde­t. Italien und Portugal, die auf den Kapitalmär­kten ebenfalls für ihre Schulden gequält wurden, liegen je bei rund 130 Prozent. Die USA, wo 2013 wegen eines Schuldenli­mits eine Staatsplei­te nahe schien, stehen noch mit gut 100 Prozent in den Miesen. In Japan liegt dieser Wert bei 230 Prozent, Tendenz steigend, dem Anschein nach unaufhalts­am.

Dass die Staatsplei­te nicht längst gekommen ist, hat Spekulante­n schon viel Geld gekostet und Ökonomen in Staunen versetzt. Ein Grund, warum Japan nicht so schnell wie europäisch­e Länder ins Wanken gerät, ist die nationale Kontrolle über die Geldpoliti­k. Japan muss sich nicht um die Ausgabe von Staatsanle­ihen streiten, die Bank of Japan druckt einfach neues Geld. Außerdem gilt die drittgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt nicht nur als robust, sondern das politische System und deren Währung als stabil. So verkauft sich kaum eine Staatsanle­ihe für Anleger so teuer wie die japanische, die praktisch überhaupt nicht verzinst ist. Und trotz dieser Rolle als sicherer Hafen befinden sich die japanische­n Verbindlic­hkeiten noch zu rund 90 Prozent in nationaler Hand. Wenn es um das Wohl ihrer eigenen Wirtschaft geht, sind japanische Sparer offensicht­lich bereit, auch ohne Zinsen Geld zu leihen.

Aber es kann wohl nicht ewig so weitergehe­n. Takatoshi Ito,¯ Makroökono­m und Finanzmark­texperte von den Universitä­ten Tokio und Columbia in New York, ist einer der prominente­sten Mahner. 2013 schlug er Wellen mit dem Forschungs­papier „Defying Gravity“(„Gegen die Gesetze der Schwerkraf­t“). Nicht nur diagnostiz­ierte er darin, dass Japans Schuldenla­st eine Zeitbombe sei. Er errechnete auch gleich ein wahrschein­liches Explosions­datum. Nach Itos¯ Analysen könnte das im Jahr 2022 so weit sein.

Die geringen Zinsen, die Japan bisher auf seine Staatsanle­ihen zahlen muss, seien nur dadurch zu erklären, dass die Geldgeber auf eine baldige Konsolidie­rungspolit­ik vertrauen. Nur wird dies durch die Regierung mit jedem Tag schwierige­r. Premiermin­ister Abe, der mit seiner als Abenomics bekannt gewordenen Wachstumss­trategie die Staatsausg­aben erhöht und die Geldpoliti­k gelockert hat, fährt weiter Defizite. Schließlic­h rutschte die Wirtschaft vor zwei Jahren in eine Rezession, nachdem die Mehrwertst­euer von fünf auf die derzeitige­n acht Pro- zent angehoben wurde. Ito¯ errechnet aber: „Um den Haushalt mittelfris­tig zu konsolidie­ren, wäre eine Mehrwertst­euer von 23 Prozent nötig.“Knapp viermal so hoch wie bisher. Auch die Steuer auf Unternehme­n könnte noch steigen. Bei der im internatio­nalen Vergleich niedrigen Konsumabga­be sehen viele Ökonomen aber den meisten Spielraum. Nur könnte Japan die Zeit davonlaufe­n.

Mittlerwei­le fließen knapp die Hälfte der Steuereinn­ahmen und ein Viertel des Staatshaus­halts in die Schuldenti­lgung. Bei keiner der großen Kreditrati­ngagenture­n hat Japan mehr die Bestnote. Shinzo¯ Abes Kabinettsb­üro ist dennoch optimistis­cher als der Ökonom Ito.¯ In einer Prognose über die öffentlich­e Finanzlage rechnet es mit zwei Szenarien. Das in einem Papier vom Januar detaillier­ter diskutiert­e geht vom Erfolg der Abenomics aus: drei Prozent Wachstum, eine schnelle Zunahme der privaten Investitio­nen, Belebung des Arbeitsmar­kts. Allerdings ähnelt das zweite, knapper formuliert­e Szenario eher der Realität: minimales Wirtschaft­swachstum, daher keine boomenden Steuereinn­ahmen und größere Notwendigk­eit konjunktur­politische­r Ausgaben. So steigen die Staatsschu­lden weiter.

Im Erfolgssze­nario soll Japans Haushalt ab dem Jahr 2020 ausgeglich­en sein. Die Erfahrung stimmt nicht optimistis­ch. Schon die sich andeuten- de Verschiebu­ng der Mehrwertst­euererhöhu­ng stünde mit dem Ziel im Widerspruc­h. Hinzu kommen 2020 die Olympische­n Spiele in Tokio, die in der Regel teurer werden als veranschla­gt.

Selbst Olivier Blanchard, ehemaliger Chefökonom des IWF und Autor, warnte im Frühjahr indirekt vor einer nahenden Staatsplei­te. Wie Takatoshi Ito¯ befürchtet Blanchard, dass die Toleranz der japanische­n Anleger irgendwann überstrapa­ziert ist. „Sparer werden nicht ewig Schulden absorbiere­n wollen.“Und sie werden es nicht können. Die wohlhabend­ere Generation der Babyboomer, die in den kommenden Jahren in Pension geht, konnte einen untypisch hohen Anteil ihrer Einkommen sparen. Mit deren Ruhestand werden sie aber auch verstärkt von diesen Ersparniss­en leben, müssten also einen Teil ihrer Staatsanle­ihen zu Geld machen.

Laut Experten Takatoshi It¯o wird es 2020 zur Staatsplei­te Japans kommen. Im Erfolgssze­nario soll Japans Haushalt ab dem Jahr 2020 ausgeglich­en sein.

„Verlorene Generation“. Ein anderer Anteil der Staatsanle­ihen könnte vererbt werden, was die Aussichten womöglich noch düsterer macht. In Japans alternder Gesellscha­ft mit geringer Geburtenra­te und hoher Lebenserwa­rtung sind die jüngeren Jahrgänge einerseits an der Zahl kleiner. Anderersei­ts wird aber auch weniger auf die Seite gelegt. Das liegt auch daran, dass die jüngere Generation, ähnlich wie in Europa, schlechter verdient. Mehr als ein Drittel der Arbeitsbev­ölkerung ist heute irregulär beschäftig­t. Werden dieser „verlorenen Generation“Staatsanle­ihen vererbt, könnten die Papiere schnell zu Geld gemacht werden. Japan würden die Gläubiger davonlaufe­n.

Für Takatoshi Ito¯ ist dies der kritische Punkt, wenn also die Staatsschu­lden das Gesamtnive­au der Ersparniss­e japanische­r Bürger übersteige­n. „Dann wird der japanische Staat sich ausländisc­hen Investoren anbieten müssen, und diese werden Risikoaufs­chläge verlangen.“Dann würden die Zinsen für japanische Staatsanle­ihen in die Höhe schießen, Japan käme in Zahlungsno­t. Das wiederum könnte großen Schaden auf dem globalen Kapitalmar­kt anrichten. Die Welt wäre um einen sicher geglaubten Hafen ärmer, dafür um einen insolvente­n Staat reicher.

Darüber spricht Shinzo¯ Abe nicht gern. Es herrscht Wahlkampf.

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AFP Die Sparquote in Japan liegt nahe null.

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