Wort der Woche
BEGRIFFE DER WISSENSCHAFT
Menschheits- und Klimageschichte haben die Landschaften im Mittelmeerraum dramatisch verändert, wie nun anhand eines Torfmoores in Kreta bewiesen wurde. Die neuen Erkenntnisse sollten uns vorsichtig machen.
Neben Badefreuden und kulturellen Highlights fasziniert bei einem Mittelmeerurlaub insbesondere die Natur: Man kann sich an der mediterranen Üppigkeit kaum sattsehen und sattriechen – und kommt dabei kaum auf den Gedanken, dass die heutige Vegetation nur wenig mit ursprünglicher Natur zu tun hat. Mit ein Grund dafür ist, dass es zwar viele Hinweise auf Veränderungen der Landschaften gibt, aber nur wenige handfeste Beweise. Einen davon haben kürzlich französische Forscher im Hochland von Kreta gefunden: das Torfmoor Asi Gonia. Anhand von abgelagerten Pollen und Holzkohlestückchen lässt sich dort die Geschichte der Landschaft in den vergangenen 2000 Jahren lückenlos rekonstruieren (PLoS One 9. 6.). In Kurzfassung: In der Antike war die Gegend von üppigen Eichenwäldern geprägt, im Mittelalter von niedrigen Hartlaubgewächse (Macchie) und heute von einer Steppe mit dornigen Sträuchern (Phrygana).
Diese Entwicklung lässt sich durch eine Kombination von Menschheits- und Klimageschichte erklären. Schon die Römer und die Byzantiner betrieben Brandrodung, legten Olivenhaine und Weiden für Milchvieh an. Aber erst als die Bevölkerung von den unsicheren Küsten ins Gebirge übersiedelte und es gleichzeitig trockener wurde, verschwanden die Wälder. Unter venezianischer Herrschaft wurde diese offene Landschaft intensiv wie nie zuvor als Weide und zum Getreideanbau genutzt. In osmanischer Zeit ging die Bevölkerung stark zurück, es wurde zwischenzeitlich feuchter. An der Vegetation ändert sich aber noch lange Zeit nichts – bis ab dem späten 19. Jahrhundert die Überweidung durch Schafe und Ziegen das Antlitz Kretas erneut völlig verändert hat.
Das Interessante dabei ist, dass sich Bewirtschaftung und Klima zwar immer wieder stark veränderten, dass die Vegetation aber dennoch recht stabil blieb. Nur zweimal kam es zu drastischen Umbrüchen: um das Jahr 850 und nach 1870. Zu diesen Zeitpunkten war offenbar die Anpassungsfähigkeit der Ökosysteme überspannt – an diesen sogenannten „tipping points“wandelten sich die Lebensgemeinschaften in kurzer Zeit stark.
Was man daraus lernen kann und muss: Die Natur ist zwar anpassungsfähig und verzeiht viel – aber irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem sie sich plötzlich und unumkehrbar wandelt. Das sollte uns vorsichtig machen, wenn wir uns heute die Welt in rasantem Tempo und in noch nie dagewesenem Ausmaß untertan machen. Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.