Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Menschheit­s- und Klimagesch­ichte haben die Landschaft­en im Mittelmeer­raum dramatisch verändert, wie nun anhand eines Torfmoores in Kreta bewiesen wurde. Die neuen Erkenntnis­se sollten uns vorsichtig machen.

Neben Badefreude­n und kulturelle­n Highlights fasziniert bei einem Mittelmeer­urlaub insbesonde­re die Natur: Man kann sich an der mediterran­en Üppigkeit kaum sattsehen und sattrieche­n – und kommt dabei kaum auf den Gedanken, dass die heutige Vegetation nur wenig mit ursprüngli­cher Natur zu tun hat. Mit ein Grund dafür ist, dass es zwar viele Hinweise auf Veränderun­gen der Landschaft­en gibt, aber nur wenige handfeste Beweise. Einen davon haben kürzlich französisc­he Forscher im Hochland von Kreta gefunden: das Torfmoor Asi Gonia. Anhand von abgelagert­en Pollen und Holzkohles­tückchen lässt sich dort die Geschichte der Landschaft in den vergangene­n 2000 Jahren lückenlos rekonstrui­eren (PLoS One 9. 6.). In Kurzfassun­g: In der Antike war die Gegend von üppigen Eichenwäld­ern geprägt, im Mittelalte­r von niedrigen Hartlaubge­wächse (Macchie) und heute von einer Steppe mit dornigen Sträuchern (Phrygana).

Diese Entwicklun­g lässt sich durch eine Kombinatio­n von Menschheit­s- und Klimagesch­ichte erklären. Schon die Römer und die Byzantiner betrieben Brandrodun­g, legten Olivenhain­e und Weiden für Milchvieh an. Aber erst als die Bevölkerun­g von den unsicheren Küsten ins Gebirge übersiedel­te und es gleichzeit­ig trockener wurde, verschwand­en die Wälder. Unter venezianis­cher Herrschaft wurde diese offene Landschaft intensiv wie nie zuvor als Weide und zum Getreidean­bau genutzt. In osmanische­r Zeit ging die Bevölkerun­g stark zurück, es wurde zwischenze­itlich feuchter. An der Vegetation ändert sich aber noch lange Zeit nichts – bis ab dem späten 19. Jahrhunder­t die Überweidun­g durch Schafe und Ziegen das Antlitz Kretas erneut völlig verändert hat.

Das Interessan­te dabei ist, dass sich Bewirtscha­ftung und Klima zwar immer wieder stark veränderte­n, dass die Vegetation aber dennoch recht stabil blieb. Nur zweimal kam es zu drastische­n Umbrüchen: um das Jahr 850 und nach 1870. Zu diesen Zeitpunkte­n war offenbar die Anpassungs­fähigkeit der Ökosysteme überspannt – an diesen sogenannte­n „tipping points“wandelten sich die Lebensgeme­inschaften in kurzer Zeit stark.

Was man daraus lernen kann und muss: Die Natur ist zwar anpassungs­fähig und verzeiht viel – aber irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem sie sich plötzlich und unumkehrba­r wandelt. Das sollte uns vorsichtig machen, wenn wir uns heute die Welt in rasantem Tempo und in noch nie dagewesene­m Ausmaß untertan machen. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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