Die zwei Gesichter des Fußballs
Was bleibt von dieser Europameisterschaft? Erst lieferten prügelnde Hooligans, dann jubelnde Underdogs die Schlagzeilen eines Turniers, von dem sich Österreich früh verabschiedet hat. Die Bilanz von vier Wochen Großereignis.
Insgesamt 50 von 51 Spielen sind absolviert, 2.350.000 Zuschauer waren in den Stadien mit dabei. Sie sahen 107 Tore und über 4600 Minuten Fußball, mitunter zähe Abwehrschlachten, aber auch spielerische Glanzlichter. Am 10. Juni eröffnete Gastgeber Frankreich gegen Rumänien im Stade de France die 15. Europameisterschaft, heute, genau einen Monat danach, kommt es am selben Ort zum Final-Showdown. Frankreich ist wieder mit dabei, Gegner im Endspiel ist Portugal. Dazwischen lag viel Licht und Schatten, Ausnahmekönner sorgten für Höhepunkte, Unbelehrbare bescherten dem Turnier aber auch negative Schlagzeilen.
Die Wikinger. Teamgeist, begeisternde Fans, kultige „Hu“-Rufe. Debütant Island schrieb das Märchen dieser EM. Die kleinste Nation, die je bei einer Endrunde teilgenommen hat, ließ Portugal und Österreich hinter sich und schickte England nach Hause, erst im Viertelfinale war Schluss. Zahnarzt Hallgr´ımsson auf der Trainerbank, der bärtige Kapitän Gunnarsson mit seinen Einwürfen und TV-Reporter Benediktsson haben längst Kultstatus erreicht. Drei Wochen lang war die Insel im Freudentaumel, der künftige Präsident feierte in der Fankurve.
IIrische Stimmgewalt. Sie waren das freundliche Gesicht dieser EM, ihre Charme-Offensive begeisterte Frankreich. Irlands Anhänger sangen und tanzten für eine junge Französin, eine Nonne, für ein Baby, sogar für die Polizei und gegnerische Fans. Ihre Mannschaft ärgerte im Achtelfinale immerhin Frankreich, die irischen Fans präsentierten sich selbst in der Niederlage europameisterlich.
IDer Superstar. Antoine Griezmann ist der neue Held der Franzosen. Der Atletico-´Stürmer schoss den Gastgeber ins Endspiel, schickte Weltmeister Deutschland nach Hause. Mit sechs Toren und zwei Assists ist er Frankreichs Erfolgsgarant. Im Finale kann sich der 25-Jährige nun auf eine Ebene mit Platini und Zidane heben. Es wäre ein Sternstunde für das gebeutelte Frankreich: Griezmanns Schwester überlebte den Terroranschlag im Bataclan, während er selbst wenige Kilometer entfernt im Stade de France, dem Ort des Endspiels, auf Torjagd ging.
IDie Unauffälligen. Sie mieden das Rampenlicht und das war gut so. Die Schiedsrichter pfiffen recht souverän, nur wenige Fehlentscheidungen mussten diskutiert werden, Skandalspiele blieben aus. Es wurden weniger Gelbe Karten als beim Turnier 2012 gezückt, auch die Abseitsentscheidungen haben sich verbessert. Pierluigi Collina, Chef der Uefa-Schiedsrichter, hat seinen Unparteiischen vor jeder Partie eine Schulung verordnet, in der auf die Besonderheiten der Teams eingegangen wurde. Ins Finale hat es der Brite Mark Clattenburg, 41, geschafft.
IKein Terror. Abgesehen von den Fan-Krawallen (siehe Flops) war die EM bisher eine sichere Veranstaltung. Die massive Polizeipräsenz in den Städten, die aufwendigen Kontrollen in Stadien und beim Public Viewing haben sich offenbar ausgezahlt, der Uefa zufolge gab es keine besonderen Vorfälle. Besucher berichteten dennoch von einem mulmigen Gefühl. Ein lauter Knall während des Viertelfinals zwischen Deutschland und Italien führte in der Pariser Fanzone zu einer Massenpanik. Das Risikoniveau bleibt bis zum Ende der EM hoch, dann darf fürs Erste aufgeatmet werden.
IRot-Weiß-Rot. Drei Spiele, ein glücklicher Punkt, 1:4 Tore. Österreich hat in Frankreich enttäuscht, nur die Ukraine (null Punkte, null Tore) hat schlechter abgeschnitten. Schnell war nach der Auftaktniederlage die Euphorie verflogen, schnell war klar, dass die Erwartungen zu hoch gegriffen waren. Teamchef Kollers Aufstellungsexperimente schlugen fehl, den Spielern ist es nicht gelungen, ihr Potenzial abzurufen, Topstar Alaba kam nie im Turnier an. Die Nachwehen: Gerüchte und angebliche Insider-Berichte über Streit, Gruppenbildung und Lagerkoller. Kapitän Fuchs ist bereits zurückgetreten. Als einziger Lichtblick bleibt, dass Cristiano Ronaldo an Tormann Almer verzweifelt ist und Alessandro Schöpf eine Talentprobe abgeliefert hat.
IDie Rückkehr der Hooligans. Es waren die ersten großen Schlagzeilen dieser EM. Wilde Schlägereien in Mar-
Iseille zwischen russischen und englischen Anhängern, danach Attacken im Stade Velodrome.´ Vor allem die Russen bereiteten den Behörden Sorgen: durchtrainiert, beinahe militärisches Vorgehen, beste Kontakte zur NeonaziSzene und zur russischen Politik. Die Uefa drohte mit Turnierausschluss, der WM-Gastgeber 2018 spielte auf Bewährung weiter und verabschiedete sich als Gruppenletzter nach der Vorrunde.
Der kroatische Anhang sorgte beim Spiel gegen Tschechien mit rassistischen Parolen und dem Zünden von Feuerwerkskörpern für einen Tiefpunkt. Die Uefa sprach eine milde Geldstrafe von 100.000 Euro aus.
Three Lions. Spott und Häme für das Mutterland des Fußballs. England kassierte trotz Vorsprungs eine 1:2-Pleite gegen Island, die EM war damit im Achtelfinale zu Ende, die größte Blamage des Turniers perfekt. Das verjüngte Starensemble konnte die Erwartungen einmal mehr nicht erfüllen, auch der Tormann war wieder nicht
Iunschuldig. Teamchef Hodgson dankte unmittelbar nach dem bitteren Aus mit vorbereiteter Abschiedsrede ab.
Zlatan. Von allen Superstars hat besonders Zlatan Ibrahimovic´ enttäuscht. Seine magere EM-Ausbeute: sieben Schüsse in drei Spielen, kein Tor. Schwedens einziger Treffer blieb ein irisches Eigentor, nach der Gruppenphase ging es nach Hause. Bereits während des Turniers gab Ibrahimovic´ seinen Rücktritt aus dem Nationalteam bekannt, nun soll der 34-Jährige bei Manchester United für Furore sorgen.
IHolprige Plätze. Spieler rutschten reihenweise aus, Bälle versprangen sich, das Spielniveau litt. Der Rasen in Marseille, Lille und St. Denis präsentierte sich in einem katastrophalen Zustand, auch Frankreichs Teamchef Deschamps beklagte sich. In Lille wurde die Rasenfläche schließlich vor dem Achtelfinale getauscht. Das niederösterreichische Unternehmen Richter Rasen hat unter anderem das Stade Pierre-Mauroy in Lille ausgestattet und sieht die französischen Greenkeeper in der Verantwortung.
IDie Taktik. Reagieren statt agieren – wird die EM so in die Fußballgeschichte eingehen? Spielerischer Glanz fehlte über weite Strecken, das Hauptaugenmerk galt der Defensive. Die Folge: Viele der ohnehin wenigen Tore (2,14 pro Spiel) fielen nach Standardsituationen. Dafür wurde mit Dreier-, Viererund Fünferkette, mitunter sogar mit zwei Viererketten alles geboten, was das defensive Taktiklehrbuch hergibt. Die Nordiren wechselten sogar in allen ihrer vier Partien das System.
II24 statt 16 Mannschaften, dazu ein neuer Modus, der es Gruppendritten wie Portugal erlaubt, ins Endspiel einzuziehen. Nicht alle waren glücklich mit der aufgeblähten EM. „24 Mannschaften sind zu viel“, meinte etwa DFB-Coach Löw, Albanien musste als Gruppendritter drei Tage zittern, ehe das endgültige Aus feststand. Die Fifa will dennoch an ihrer MammutWM mit 40 Teams (2026) festhalten.