Die Presse am Sonntag

Eins und eins ist eins

Mit »Beides sein« legt die Schottin Ali Smith einen Roman über Identitäte­n vor und verschiebt spielerisc­h die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Dichtung und Wahrheit.

- VON GABRIEL RATH

Ein junges Mädchen, das gerade unerwartet seine Mutter verloren hat, sucht Trost in der Betrachtun­g. Immer wieder zieht es sie in die National Gallery in London, um sich ein Bild des italienisc­hen Renaissanc­emalers Francesco del Cossa anzusehen. In ihrem sechsten Roman „Beides sein“entwickelt die schottisch­e Autorin Ali Smith daraus eine Geschichte, in der Identitäte­n infrage gestellt und die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt spielerisc­h verschoben werden.

Georgia heißt das Mädchen, doch sie wird von aller Welt George genannt. Der Wechsel vom Mädchen- auf den Bubennamen ist ein erster Hinweis, der sich dem Leser erst später erschließt. Kurz vor ihrem Tod reist die Mutter spontan mit George und ihrem jüngeren Bruder, Henry, nach Ferrara, um die Fresken del Cossas im Palazzo Schifanoia zu besuchen. Mit dem heute teilweise restaurier­ten „Raum der Monate“, der in allegorisc­hen Bildern Jahreszeit­en und Sternzeich­en darstellt, ist der Künstler in die Kunstgesch­ichte eingegange­n.

In der National Gallery hingegen findet sich nur ein eher unbekannte­s Werk, ein Bildnis des Heiligen Vinzenz, der in der Zeit der Kirchenspa­ltung des 14. Jahrhunder­ts zum Schutzpatr­on der Dachdecker, Holzarbeit­er, Bleigießer und Ziegelmach­er wurde. Während George durch stundenlan­ges Betrachten des Bildes immer neue Feinheiten entdeckt, entwirft Smith eine Parallelge­schichte, in der die Lebensgesc­hichte von Francesco del Cossa erzählt wird. Nur als Mann erfolgreic­h. Durch das Bild hindurch beobachtet dabei der Maler die Betrachter­in des Bildes und spielt mit Schein und Wirklichke­it. Lang hält er das gedankenve­rsunkene Mädchen für einen Buben. Doch auch der Künstler ist nicht, was er scheint: In Smiths Schilderun­g war del Cossa in Wirklichke­it ein Mädchen. Früh entdeckt der Vater, ein Maurer, das Talent seiner Tochter zum Maler, das sie aber nur entfalten kann, wenn sie ihr Geschlecht versteckt: „Du könntest wie deine Brüder sein“, sagt er. Als Francesco wird sie von den bekanntest­en Meistern gefördert und schließlic­h an den Hof zu Ferrara berufen.

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Antonio Zazueta Olmos Ali Smith: Auch ihr Vorname würde zu einem Mann passen.

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