Eins und eins ist eins
Mit »Beides sein« legt die Schottin Ali Smith einen Roman über Identitäten vor und verschiebt spielerisch die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Dichtung und Wahrheit.
Ein junges Mädchen, das gerade unerwartet seine Mutter verloren hat, sucht Trost in der Betrachtung. Immer wieder zieht es sie in die National Gallery in London, um sich ein Bild des italienischen Renaissancemalers Francesco del Cossa anzusehen. In ihrem sechsten Roman „Beides sein“entwickelt die schottische Autorin Ali Smith daraus eine Geschichte, in der Identitäten infrage gestellt und die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt spielerisch verschoben werden.
Georgia heißt das Mädchen, doch sie wird von aller Welt George genannt. Der Wechsel vom Mädchen- auf den Bubennamen ist ein erster Hinweis, der sich dem Leser erst später erschließt. Kurz vor ihrem Tod reist die Mutter spontan mit George und ihrem jüngeren Bruder, Henry, nach Ferrara, um die Fresken del Cossas im Palazzo Schifanoia zu besuchen. Mit dem heute teilweise restaurierten „Raum der Monate“, der in allegorischen Bildern Jahreszeiten und Sternzeichen darstellt, ist der Künstler in die Kunstgeschichte eingegangen.
In der National Gallery hingegen findet sich nur ein eher unbekanntes Werk, ein Bildnis des Heiligen Vinzenz, der in der Zeit der Kirchenspaltung des 14. Jahrhunderts zum Schutzpatron der Dachdecker, Holzarbeiter, Bleigießer und Ziegelmacher wurde. Während George durch stundenlanges Betrachten des Bildes immer neue Feinheiten entdeckt, entwirft Smith eine Parallelgeschichte, in der die Lebensgeschichte von Francesco del Cossa erzählt wird. Nur als Mann erfolgreich. Durch das Bild hindurch beobachtet dabei der Maler die Betrachterin des Bildes und spielt mit Schein und Wirklichkeit. Lang hält er das gedankenversunkene Mädchen für einen Buben. Doch auch der Künstler ist nicht, was er scheint: In Smiths Schilderung war del Cossa in Wirklichkeit ein Mädchen. Früh entdeckt der Vater, ein Maurer, das Talent seiner Tochter zum Maler, das sie aber nur entfalten kann, wenn sie ihr Geschlecht versteckt: „Du könntest wie deine Brüder sein“, sagt er. Als Francesco wird sie von den bekanntesten Meistern gefördert und schließlich an den Hof zu Ferrara berufen.