Die Presse am Sonntag

Gospel und Marschmusi­k: Songs über das Ende der Welt

Beim Festival Harvest Of Art in der Wiener Marxhalle begeistert­e PJ Harvey mit zugleich spirituell­er und höchst weltlicher Musik.

- VON THOMAS KRAMAR

Gospel und Marschmusi­k, jene geistliche und diese höchst weltliche Musik standen am Beginn des Jazz, vor 120 Jahren in den Straßen von New Orleans. Sie standen auch am Höhepunkt und Ende seines letzten und intensivst­en Stils, des Freejazz: Albert Ayler ließ einmal noch alle Heiligen marschiere­n.

Nein, PJ Harvey macht keinen Jazz, dagegen würde sie sich wohl verwehren, aber es ist kein Zufall, dass auf ihrem großartige­n jüngsten Album die Saxofone den Ton angeben: Auch ihre unerhörte, zugleich archaische und neue Musik speist sich aus Gospel und Marsch, schmilzt Geistliche­s und Weltliches in höchster Glut zusammen. Dies- oder jenseitig, ihr geht es um letzte Dinge: „A circle is broken“, in diesen Ruf mündete das erste Stück in der Wiener Marxhalle, am Ende des zweiten stand die Vision von Worten, die – wiewohl mit Kugelschre­iber geschriebe­n – an der Wand auftauchen wie einst das Menetekel in Babylon: „This is how the world will end.“

Das Ende der Welt – und die Schuld dahinter: Die 1969 als Hippietoch­ter in Südengland geborene Polly Jean Harvey hat sich Anfang der Neunzigerj­ahre in die von Schuld und Sühne besessene Post-Punk-Fraktion rund um Nick Cave gestellt, als weibliche Antwort auf diese rein männliche Szene. Als Büßerin und Rächerin, Sünderin und Prophetin zugleich: „Jesus, come closer, I think my time is near“, gellte sie: „I’ve travelled over dry earth and floods, hell and high water, to bring you my love.“

Dieses Stück, das als dramatisch zu beschreibe­n untertrieb­en wäre, ist als einer von wenigen alten Songs in ihrem aktuellen Liveprogra­mm. In ihm spricht ein Ich, das eine Kunstfigur sein mag, aber gewiss keine papierene. Dieses Ich ist in den neuen Songs Harveys in einem Wir aufgegange­n, besser gesagt: Es versucht, darin aufzugehen, alles Leid der Welt zu spüren, aus dem Wissen darüber politisch zu handeln, und es weiß, dass es daran letztlich scheitern muss. Aus diesem Konflikt beziehen die Songs ihre schreiende Intensität. Sie beschwören eine „Community of Hope“und wissen zugleich, dass die Hoffnungsm­eldung nur lautet: „They’re gonna put a Walmart here.“ Macht des Wortes. Auch diesen Satz skandierte Harvey wie eine Prophezeiu­ng, getrieben von einem zum Äußersten entschloss­enen, vom ehemaligen Nick-Cave-Musiker Mick Harvey perfekt trainierte­n neunköpfig­en Männerense­mble, das auch als Chor taugte, für Parolen, die stets zugleich Anrufungen sind: Marsch und Gospel. „The Words that Maketh Murder“heißt ein Song, der das Blutvergie­ßen im Krieg drastisch beschreibt, und dieser Titel ist wörtlich zu nehmen: Harvey glaubt an die Macht des Wortes.

Sie will daran glauben. Sie weiß, dass man in der Wirklichke­it an die Macht des Geldes glauben muss: Der verzweifel­t stoische „Dollar, dollar“Chor in dem Stück, in dem Harvey einem bettelnden Buben durch eine Glasscheib­e zusieht, war einer der vielen Höhepunkte dieses fiebrigen, packenden, einzigarti­gen Auftritts.

Nach dem alles, was vorher gewesen war beim Harvest-Of-Art-Festival, notwendig verblasste. Element of Crime in Ehren, aber was sind ihre Sperrstund­en-Walzer gegen Songs, die vom Ende der Welt handeln?

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