Gospel und Marschmusik: Songs über das Ende der Welt
Beim Festival Harvest Of Art in der Wiener Marxhalle begeisterte PJ Harvey mit zugleich spiritueller und höchst weltlicher Musik.
Gospel und Marschmusik, jene geistliche und diese höchst weltliche Musik standen am Beginn des Jazz, vor 120 Jahren in den Straßen von New Orleans. Sie standen auch am Höhepunkt und Ende seines letzten und intensivsten Stils, des Freejazz: Albert Ayler ließ einmal noch alle Heiligen marschieren.
Nein, PJ Harvey macht keinen Jazz, dagegen würde sie sich wohl verwehren, aber es ist kein Zufall, dass auf ihrem großartigen jüngsten Album die Saxofone den Ton angeben: Auch ihre unerhörte, zugleich archaische und neue Musik speist sich aus Gospel und Marsch, schmilzt Geistliches und Weltliches in höchster Glut zusammen. Dies- oder jenseitig, ihr geht es um letzte Dinge: „A circle is broken“, in diesen Ruf mündete das erste Stück in der Wiener Marxhalle, am Ende des zweiten stand die Vision von Worten, die – wiewohl mit Kugelschreiber geschrieben – an der Wand auftauchen wie einst das Menetekel in Babylon: „This is how the world will end.“
Das Ende der Welt – und die Schuld dahinter: Die 1969 als Hippietochter in Südengland geborene Polly Jean Harvey hat sich Anfang der Neunzigerjahre in die von Schuld und Sühne besessene Post-Punk-Fraktion rund um Nick Cave gestellt, als weibliche Antwort auf diese rein männliche Szene. Als Büßerin und Rächerin, Sünderin und Prophetin zugleich: „Jesus, come closer, I think my time is near“, gellte sie: „I’ve travelled over dry earth and floods, hell and high water, to bring you my love.“
Dieses Stück, das als dramatisch zu beschreiben untertrieben wäre, ist als einer von wenigen alten Songs in ihrem aktuellen Liveprogramm. In ihm spricht ein Ich, das eine Kunstfigur sein mag, aber gewiss keine papierene. Dieses Ich ist in den neuen Songs Harveys in einem Wir aufgegangen, besser gesagt: Es versucht, darin aufzugehen, alles Leid der Welt zu spüren, aus dem Wissen darüber politisch zu handeln, und es weiß, dass es daran letztlich scheitern muss. Aus diesem Konflikt beziehen die Songs ihre schreiende Intensität. Sie beschwören eine „Community of Hope“und wissen zugleich, dass die Hoffnungsmeldung nur lautet: „They’re gonna put a Walmart here.“ Macht des Wortes. Auch diesen Satz skandierte Harvey wie eine Prophezeiung, getrieben von einem zum Äußersten entschlossenen, vom ehemaligen Nick-Cave-Musiker Mick Harvey perfekt trainierten neunköpfigen Männerensemble, das auch als Chor taugte, für Parolen, die stets zugleich Anrufungen sind: Marsch und Gospel. „The Words that Maketh Murder“heißt ein Song, der das Blutvergießen im Krieg drastisch beschreibt, und dieser Titel ist wörtlich zu nehmen: Harvey glaubt an die Macht des Wortes.
Sie will daran glauben. Sie weiß, dass man in der Wirklichkeit an die Macht des Geldes glauben muss: Der verzweifelt stoische „Dollar, dollar“Chor in dem Stück, in dem Harvey einem bettelnden Buben durch eine Glasscheibe zusieht, war einer der vielen Höhepunkte dieses fiebrigen, packenden, einzigartigen Auftritts.
Nach dem alles, was vorher gewesen war beim Harvest-Of-Art-Festival, notwendig verblasste. Element of Crime in Ehren, aber was sind ihre Sperrstunden-Walzer gegen Songs, die vom Ende der Welt handeln?